Sina II

Wir hatten uns mit Maries Mutter eine Stunde vor der regulären Sprechzeit verabredet, damit sie Sina kennenlernen kann und genug Zeit für sie haben würde. Während Maries Mutter sich mit ihr in ein Sprechzimmer zurückzog, bekamen Marie und ich ein zweites Frühstück – zusammen mit Maries Papa, der heute später zum Dienst musste. Einerseits
tat es mir ja leid, dass wir nun ihr gemeinsames Frühstück störten, andererseits hatte Maries Mutter ausdrücklich darum gebeten, mit Sina eine Stunde eher zu kommen. Und so, wie es aussah, waren die beiden auch
schon so gut wie fertig. Mit dem Frühstücken. Sina bekam einen Becher Tee angeboten, Maries Mama nahm ihren Kaffeebecher mit in die Praxis, Marie und ich bekamen noch ein leckeres Brötchen und Maries Papa war für
eine knappe Stunde Hahn im Korb.

Ein (halbes) Fenster war offen (gekippt), und draußen kamen die ersten Patienten. Eine junge Frau wurde von ihrem Freund auf einem knatternden Kult-Motorrad in die Sprechstunde gebracht. Gäbe es einen Drive-In, wäre er sicherlich direkt bis in die Praxis gefahren. Man hatte das Gefühl, er wollte der ganzen Straße mitteilen, was für ein tolles, blitzendes und poliertes Motorrad er fuhr. Jede Wette, dass die Lärmvorschriften nicht eingehalten wurden. Man verstand in der Küche sein eigenes Wort nicht mehr und hatte das Gefühl, der Tisch würde wackeln. Als der Motor endlich verstummt war, sagte Maries Vater (und Andi Feldmann hätte die Stimmlage von Meister Röhrich nicht besser hinbekommen): „Sach ma, tut das Not, dass das Moped sooo laut is?“

Bis vor einigen Jahren hätte ich damit so gar nichts anfangen können.
Aber Maries Eltern haben großen Wert auf die kulturelle Teilhabe ihrer Tochter gelegt – und nicht zuletzt durch den uneingeschränkten Zugang zu
Papas DVD-Sammlung entscheidende Pflöcke eingeschlagen. Und das färbt eben manchmal ein wenig ab. Zumindest die erste Folge mit dem legendären
Oberligaspiel im Kieler Zwietrachtstadion kann Marie inzwischen fehlerfrei mitsprechen. Marie krümmte sich vor Lachen. Irgendwann tickte
ich sie an: „Luft holen nicht vergessen!“ – „Der Auspuff ist abgefallen“, stammelte sie mit Lachtränen in den Augen. Wer diese absolut banale Szene nicht kennt, hält uns vermutlich für reichlich bescheuert.

Kurz darauf bat uns Maries Mama, auch in die Praxis zu kommen. Sina saß wie ein Häufchen Elend in ihrem Rollstuhl, eine Spenderbox Taschentücher auf ihrem Schoß. „Es gibt im Leben Situationen, da kommt man aus einem Karussell nicht mehr ohne Hilfe raus. Alles ist zum Kotzen, alles dreht sich im Kreis und man hat keinerlei Kraft mehr, daran etwas zu ändern. Es bringt nichts, wenn wir sie mal eben aus diesem Karussell rausschubsen, sondern es muss jetzt auch was gegen Schwindel, Übelkeit, Einsamkeit, Kraftlosigkeit, gegen den Kater am Morgen danach und gegen alles, was einen da sonst noch so beherrscht, unternommen werden. Wir haben uns gemeinsam dazu entschieden, dass Sina in eine psychiatrische Klinik geht, noch heute und direkt von hier. Wir haben auch bereits mit einem Kollegen telefoniert, der sie aufnehmen wird. Ich mache jetzt noch die Einweisung fertig, den Transportschein – und dann wird das schon wieder.“ – Sina nickte. Tränen kullerten über ihre Wangen. Ich nahm sie in den Arm. Sie wirkte teilnahmslos. „Wir kommen dich besuchen“, versprach ich ihr.

Maries Mutter drückte ihr den ganzen Papierkram in die Hand, der aus dem Drucker gekommen war. „Warum bin ich ein Notfall?“, fragte sie. Maries Mutter antwortete: „Das ist meine Einschätzung, Sina. Aufnahme sofort. Ich möchte Sie keine Nacht mehr alleine lassen. Und auch keinen halben Tag mehr.“ – „Ich habe Ihnen doch versprochen, dass ich mir nichts antue.“ – „Darum geht es nicht. Sie leiden. Und genauso wie ich jemanden mit akuter Blinddarmentzündung nicht noch eine Nacht nach Hause
ins Bett schicke, fahren Sie jetzt auch direkt in die Klinik.“

Während Maries Mutter noch etwas in den PC hackte, fragte Sina: „Wie soll ich das denn mit meinen Klamotten machen? Ich muss doch was zum Anziehen haben.“ – „Kann Ihr Freund Ihnen nichts bringen?“ – „Ich möchte
niemanden in meine Schränke gucken lassen.“ – „Haben Sie keine gute Freundin, der Sie Ihre Geheimnisse anvertrauen können?“ – Sina schüttelte den Kopf, guckte mich dann aus dem Augenwinkel an, und als sie merkte, dass ich sie ebenfalls anguckte, lächelte sie verlegen. – „Ich kann dir Sachen rausholen, kein Problem. Mich interessieren deine Joints und dein Vibrator auch nicht.“ – „Kannst du mir versprechen, dass
du nur Klamotten rausholst und nicht alles durchwühlst?“ – „Sina! Jetzt
spinn mal nicht rum. Solange mir keine scharfen Handgranaten entgegen purzeln, behalte ich das für mich, was ich da sehe. Ich gucke auch weder
in deine Tagebücher noch in deine Fotoalben.“ – „Die sind eh verschlossen. Darum geht es nicht.“ – „Du misst dem viel zu viel Bedeutung zu. Was würdest du denn über mich denken, wenn du das, was ich
nicht sehen soll, bei mir im Schrank finden würdest?“ – „Dann würde ich
denken: Jule ist ein kleines Schwein.“ – „Ein kleines oder ein großes?“
– „Nein, nur ein kleines“, lachte Sina, wischte sich die Tränen weg und
drückte mir ihren Wohnungsschlüssel in die Hand.

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