Keine Wahl

In meinem Geburtsjahr, also vor rund einem Vierteljahrhundert, wurde in Deutschland das so genannte „Betreuungsrecht“ reformiert. Bis dahin konnten Menschen mit Behinderung entmündigt und für sie ein Vormund bestellt werden. Die betroffenen Menschen waren damit geschäftsunfähig (und folglich beispielsweise auch nicht fähig, zu heiraten).

Seit der Reform soll genauer hingeschaut werden. Die Betreuung soll als Hilfe verstanden werden. Sie ist quasi eine von einem Richter in einem Betreuungsverfahren angeordnete „Vollmacht“. Der betroffene Mensch wird in seiner Geschäftsfähigkeit nicht mehr automatisch eingeschränkt.
Für die Bereiche, in denen er Hilfe benötigt, ist der rechtliche Betreuer berechtigt, zusätzliche rechtswirksame Erklärungen abzugeben. Er muss dabei die Wünsche des betroffenen Menschen berücksichtigen.

Diese Bereiche müssen vom Betreuungsgericht klar umrissen werden. Am häufigsten wird dabei der Bereich des „Vermögens“ als betreuungswürdig angesehen. Gefolgt von dem Bereich „Gesundheit“, wo der Betreuer beispielsweise dem betroffenen Menschen helfen soll, das Für und Wider einer Operation abzuschätzen und am Ende die richtigen rechtswirksamen Erklärungen abzugeben. Als dritthäufigster Bereich gilt die Bestimmung des Aufenthaltsortes. In einigen Einzelfällen wird dem Betreuer auch vom Gericht gestattet, an den betroffenen Menschen gerichtete Briefe abzugreifen und zu öffnen – ansonsten bleibt es verboten.

Bringt eine betroffene Person sich oder ihr Vermögen in erhebliche Gefahr, kann sie auch nach dem derzeit geltenden Betreuungsrecht faktisch in ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkt werden. Das Betreuungsgericht bestimmt dann einen so genannten „Einwilligungsvorbehalt“, mit dem die Geschäfte der betreuten Person grundsätzlich (wie bei Jugendlichen) der Zustimmung des Betreuers bedürfen und ansonsten nichtig sind.

Soweit die Theorie. Auf die Probleme, die sich beispielsweise dabei ergeben, wenn ein Betreuer bei der Aufenthaltsbestimmung „helfen“ soll, möchte ich gar nicht eingehen, das würde den Rahmen sprengen. Generell wird auch das heutige Betreuungsrecht, das vor 25 Jahren ein großer Fortschritt war, inzwischen oft kritisiert. Es erscheint nicht mehr zeitgemäß, dass jemand „paternalistisch“ über die Geschäfte eines Menschen entscheiden kann, was hier faktisch möglich ist. Das deutsche Betreuungsrecht wird seitens des UN-Fachausschusses insoweit auch als mit der UN-Behindertenrechts-Konvention unvereinbar angesehen.

Ich würde diese „Unvereinbarkeit“ mal als „Baustelle“ für künftige Regierungen ansehen. Umso wichtiger müsste sein, dass möglichst alle davon betroffenen Menschen ihre künftige Regierung wählen dürfen. Hier liegt aber noch ein Hase im Pfeffer: Menschen, für die eine Betreuung in allen (drei) oben genannten Bereichen (Vermögen, Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung) angeordnet ist, dürfen in Deutschland nicht wählen. Sie erhalten keine Wahlbenachrichtigung, keine Stimmkarte – nix.

Das bedeutet im Klartext: Wer eine Betreuung, die laut Gesetz ja „Unterstützung, Hilfe und Schutz“ gewähren soll, in Anspruch nimmt, darf, sofern er in allen drei genannten Bereichen Hilfe braucht, nicht zur Wahl gehen.

Grundsätzlich denkt man dabei vermutlich an Menschen, die ohne äußere Impulse den ganzen Tag lang in ihrem Stuhl sitzen und brummend mit dem Oberkörper hin und her wippen würden. Oder an alte, demente Menschen, die vielleicht gar nicht wissen, wer oder geschweige denn wo sie eigentlich sind. Eine demokratische Wahl ist eine ernste Angelegenheit, die vor allem glaubwürdig sein muss. Daher halte ich es auch für folgerichtig, dass nur diejenigen ein Kreuz machen, die überhaupt begreifen, was sie dort tun. Und die in der Lage sind, sich eine eigene,
freie Meinung zu bilden und sich in einem Mindestmaß mit politischen Themen auseinander zu setzen.

Schaue ich mir aber einmal an, wer beispielsweise so eine vollumfängliche Betreuung bekommt, damit er in allen Bereichen Hilfe auch rechtssicher in Anspruch nehmen kann, kommen mir ganz schnell Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Regelung. Ich glaube: Diejenigen, die mit ihrem Ausweis und ihrer Wahlbenachrichtigung am Wahltag in einem Wahllokal auftauchen und klar ein gültiges (!) Kreuz machen können, wissen auch, was sie da gerade tun.

Ob dieser Mensch nun vernünftig oder unvernünftig wählt, ist aus meiner Sicht nicht mit anderem Maßstab zu bewerten als bei Menschen, die keine Betreuung haben. Würde ich ganz rechts, ganz links, Protest oder gar nicht wählen, wäre das legitim. Und welche Motive mich dazu bewegt haben, ebenso. „Schon mein Opa hat die SPD gewählt, ich stamme aus einer Arbeiterfamilie“, muss man genauso gelten lassen wie dass jemand eine Abgeordnete von den Grünen lediglich „niedlich“ findet, während ein anderer was gegen „Kanacken in der Politik“ hat.

Aus meiner Sicht widerspricht es der grundgesetzlich garantierten Gleichheit vor dem Gesetz und dem Benachteiligungsverbot behinderter Menschen, wenn ein Richter durch die Anordnung einer Betreuung automatisch auch über das Wahlrecht entscheidet. Wenn jemand in einer Einrichtung oder durch Nachbarschaftshilfe sehr gut versorgt wird, wird unter Umständen von der Anordnung einer Betreuung, insbesondere für den Bereich der Aufenthaltsbestimmung, abgesehen. Ähnliches gilt für demente Menschen, die zu Zeiten, als es ihnen besser ging, eine Vollmacht eingerichtet haben. Diese Menschen bekommen keine Betreuung in allen Bereichen, und sind nur aufgrund dieses willkürlichen Umstandes wahlberechtigt. Es wird nicht hinterfragt, ob sie fähig sind, sinnvoll ihre Stimme abzugeben.

Andererseits gibt es genügend Menschen mit Behinderung, die sehr wohl genau wissen, was sie wollen und auch politisch interessiert sind, aber gleichzeitig keine Angehörigen haben, die zum Beispiel sehr gut und vertrauensvoll mit ihnen besprechen könnten, ob eine medizinische Behandlung sinnvoll ist, und sie so bei eigener Entscheidungsfindung unterstützen. Stattdessen bekommen diese Menschen dann doch (auch) für diesen Bereich einen Betreuer und können in der Folge mitunter nicht mehr wählen.

Ich halte dieses Vorgehen, einem Menschen aufgrund eines von der UN kritisierten Betreuungsrechts automatisiert das Wahlrecht abzusprechen, für falsch und im Sinne einer weiteren „Baustelle“ für dringend überarbeitungsbedürftig. Ich würde mich mitunter auf einen Kompromiss einlassen wollen, dass im Rahmen der Betreuungsanordnung auch geprüft wird, inwieweit derjenige das Prinzip einer Wahl begreift. Andererseits muss man aber klar sagen, dass behinderte Menschen in Deutschland in der Vergangenheit so extrem und so widerlich diskriminiert worden sind, dass sich daraus sogar eine ganz besondere Verpflichtung zur unbedingten
Sensibilität ergeben müsste. Ich persönlich würde lieber ein paar Menschen mit Behinderung im Wahllokal sehen, die nur in halbwegs reflektiertem Rahmen von „ihrer“ Partei überzeugt sind, als eine Horde unreflektierter Protestwähler, die Jahre auf jenen Tag gewartet haben, an dem sie endlich auch mal ihre rechte Meinung sagen dürfen.

Ganz kurios, eher schon fragwürdig, wird es, wenn man sich mal die Argumente reinzieht, mit denen 1989 im Rahmen des neuen Betreuungsrechts auch die Frage des Wahl-Ausschlusses neu geregelt wurde. Das gehört meines Erachtens nach 25 Jahren dringend neu diskutiert.

„Der Ausschluss [behinderter Menschen] vom Wahlrecht ist ein schwerwiegender Eingriff in die Rechte Betroffener. […] Insbesondere dann, wenn Betroffene in […] Einrichtungen wohnen, lässt sich die fehlende Übersendung der Wahlunterlagen und damit die Tatsache der [Betreuung] gegenüber den Mitbewohnern oft nicht verheimlichen.“

Es wurde in Erwägung gezogen, nur diejenigen vom Wahlrecht auszuschließen, die auch nach neuem Recht nur beschränkt geschäftsfähig wären (Einwilligungsvorbehalt). Das wurde verworfen, da „auf einen Einwilligungsvorbehalt gerade in den besonders schweren Fällen einer […] Behinderung verzichtet werden kann, weil der Rechtsverkehr die Willenserklärungen eines solchen Betroffenen ohnehin nicht akzeptiert.“

Klargestellt wurde aber, dass der Ausschluss vom Wahlrecht nicht davon abhängig gemacht werden kann, dass die Betreuung auch „die Einwilligung in eine Sterilisation“ oder „das Anhalten oder das Öffnen der Post“ der betreuten Person umfasst, da „die Übertragung dieser Aufgabenkreise […] nur sehr selten in Betracht kommen“ würde. Mit bösen Worten: Das wären nicht genug…

Und mein persönlicher „Favorit“: „Bei Körperbehinderten kommt ein Ausschluss vom Wahlrecht nur in den äußerst seltenen Fällen in Betracht.“ Als Beispiel wird ein vom Hals abwärts querschnittgelähmter Mensch angeführt, der „seinen Willen trotz vermutlich [!] voller geistiger Orientierung nicht kundtun“ könne. Ein „Ausschluss vom Wahlrecht hätte hier keine praktische Bedeutung, da der Betroffene ohnehin an Wahlen nicht teilnehmen kann.“

Ich darf und ich werde im September wählen. Ich weiß zwar eher, wen ich nicht wähle, als wen ich wählen soll, aber ich bin froh, dass meine Stimme zählt.


(Alle Zitate aus dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Betreuungsgesetz vom 11.05.1989, Seite 188 f.)


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