Nicht ohne Hilfe

Natürlich sind Helena und ich nicht völlig überraschend beim Jugendamt aufgetaucht, sondern ich habe uns vorher per Mail angekündigt.
Klar, am Wochenende liest niemand seine dienstlichen Mails, aber immerhin hatte die zuständige Mitarbeiterin so direkt zu Dienstbeginn eine Information. Es war etwa 7.35 Uhr, als mein Handy klingelte. Nachdem ich in der Mail nur zwei Sätze geschrieben habe, sagte sie: „Frau Socke, mit Verlaub, Sie kommen gerade von der Uni, sind noch sehr jung, sind persönlich betroffen: Darf ich bitte einmal ausschließen, dass Sie aus einer möglichen Unerfahrenheit heraus Dinge anders bewerten
als wir es hier tun? Wir wissen, dass die Pflegeeltern zu den eher strengeren gehören und mitunter etwas konservativere Ansichten haben als
Ihr Jahrgang. Wenn da Grenzen überschritten sind, können wir uns vielleicht in einem geordneten Rahmen treffen und gemeinsam überlegen, was wir für Helena tun können. Braucht es wirklich diesen Notfallrahmen?
Brauchen wir ein Gespräch heute morgen?“

„Ich kann nicht ausschließen, dass Helena hier eine Märchenstunde veranstaltet und uns Dinge erzählt hat, die sich hinterher als falscher Alarm herausstellen. Ich habe dafür aber keine Anhaltspunkte. Für mich klingt das plausibel, schlüssig, zu detailreich, auch auf Nachfragen, und vor allem inhaltlich zu reflektiert, um ausgedacht zu sein. Nach ihren Schilderungen werde sie gewohnheitsmäßig körperlich misshandelt, durch Schläge, auch mit Gegenständen, es sei auch schon mit Messern nach
ihr geworfen worden.“ – „Ach du liebe Scheiße. Das hat ja gerade noch gefehlt. Ja, da müssen Sie kommen. Ist Helena noch bei Ihnen?“ – „Ja.“ –
„Dann bringen Sie sie bitte mit. Sie können ihr sagen, dass wir auf ihrer Seite sind und ihr helfen werden.“

Im Auto fragte ich Helena: „Hast du Angst?“ – „Ja.“ – „Wovor?“ – „Dass ich in ein Heim gesteckt werde. Bist du erstmal drin, kommst du nie wieder aus diesen Mühlen heraus. Und wenn du irgendwann rauskommst, bist du nicht mehr die, die du warst, als du reingegangen bist. In diesen Einrichtungen ist kein Platz für jemanden wie mich.“ – „Ich habe das nicht zu entscheiden. Aber ich werde alles versuchen, um dir das zu ersparen. Möchtest du zurück zu deinen jetzigen Pflegeeltern?“ – Natürlich war mir klar, dass das niemals in Betracht kommen würde. Sie antwortete: „Es wäre besser als ein Heim oder eine Jugendeinrichtung, aber wenn ich ehrlich bin, möchte ich lieber mit Menschen zusammenleben,
die so cool sind wie Maries Eltern. Ich kenne sie zwar nicht, aber was ich so von Marie gehört habe, müssen sie cool sein. Marie ist auch so cool. Überhaupt seid ihr beide cool. Vielleicht schicken sie mich auch in eine andere Stadt. Wo ich niemanden kenne und alles von vorne anfangen muss. Ich habe so etwas mal im Fernsehen gesehen. Darf ich euch
dann trotzdem mal besuchen kommen? Ich meine, für ein Wochenende wie dieses?“ – „Na sicher.“

Wir wurden bereits erwartet. Zwei Mitarbeiterinnen setzten sich mit Helena und mir an einen großen runden Tisch in einem großen Raum. In der
Ecke stand ein großer Tischkicker, auf dem einige Broschüren abgelegt waren. Unter der Decke hing ein Fernseher. Ausgeschaltet. Ein Kalender hing an der Wand und war seit Wochen nicht mehr aktualisiert worden. An der anderen Wand hing ein großes Bild aus einem Hafen. „Möchtest du ein Wasser? Oder einen Fruchtsaft?“ – „Wasser. Bitte.“ – Man schlug vor, dass Helena zunächst einfach nur das erzählt, was sie erzählen möchte, und man anschließend mit ihr ein Protokoll anfertigt, während man parallel auch nochmal mit mir redet.

Helena begann zu weinen, bevor sie den ersten vollen Satz über die Lippen brachte. Dann stand sie auf, ging zum Fenster und schaute nach draußen. Niemand sagte was. Nur ihr Schluchzen war zu hören. Dann drehte
sie sich um, lehnte sich gegen die Fensterbank und sagte: „Es ist alles
Scheiße. Und ich weiß nicht mal, was ich falsch gemacht habe.“ – „Vermutlich gar nichts“, antwortete ich, rollte zurück und deutete auf meinen Schoß. Ohne zu zögern kam Helena zu mir, setzte sich auf meinen Schoß, lehnte sich an meinen Oberkörper an und begann zu erzählen. Die beiden Mitarbeiterinnen hörten zu.

Helena war schon lange fertig, als die Frage kam, auf die ich schon gewartet habe: „Warum hast du bisher niemandem davon erzählt?“ – Helena antwortete: „Das ist doch eine Bombe. Sie lassen alles stehen und liegen, um mit mir noch heute zu sprechen. So eine Bombe zünde ich doch nicht alleine. Nicht, ohne dass mir jemand hilft.“ – Ich schluckte mehrmals und gab mir größte Mühe, nicht zu weinen anzufangen.

Eine weitere Frage wurde ihr gestellt: Angenommen, sie würde in eine andere Stadt ziehen, wie sehr würde sie ihre Freunde vermissen? Helena antwortete: „Welche Freunde denn? Mit mir will doch schon lange niemand mehr etwas zu tun haben. Früher wurde ich auf jeden Kindergeburtstag eingeladen. Aber irgendwann hat die Mutter meiner damals besten Freundin
gesagt, dass sie mich nicht mehr einladen, weil ich ja auch niemanden zu meinem Geburtstag einlade. Und wenn erstmal ein Kind damit anfängt, ist es aus.“ – „Warum hast du denn niemanden zu deinem Geburtstag eingeladen?“, fragte ich und ahnte schon die Antwort, ohne bisher mit Helena darüber gesprochen zu haben. Ja, die Pflegeeltern wollten das nicht.

Wie wir inzwischen wissen, hat Helena mich nicht angelogen. Die Pflegemutter habe inzwischen sowohl die Messerwürfe als auch die wiederholten Schläge durch den Pflegevater bestätigt. Zu den Gründen durfte man mir nichts sagen. Allerdings sagte mir die Dame vom Jugendamt
telefonisch: „Aus unserer Sicht sind sie absurd.“

Soweit ich weiß, laufen Ermittlungen gegen die bisherigen Pflegeeltern. Und Helenas Unterbringung? Eine Pflegefamilie, die sie sofort aufnehmen könnte, sei nicht zu finden. Möglicherweise entschärfe sich die Situation nach den Sommerferien etwas. Aber versprechen könne man nichts. Die Einrichtung, die jetzt einen Platz frei räumen würde, ist jene, vor der Helena besonders viel Angst hat. Wegen ihrer Erkrankung ist ein hoher Pflegeaufwand nötig, der sei nur dort realisierbar. Weil dort so viel Personal ist, sind dort aber auch die ganzen Leute, die sich in keiner Pflegefamilie zurecht fänden.

Helena wechselt mit Beginn der Klasse 7, also in den nächsten Wochen,
die Schule. Aus technischen Gründen, die nicht in ihrer Person liegen. Man wird so schnell nichts Geeignetes für sie finden. Damit ist das nächste Problem (fehlender Anschluss, fehlende Kontinuität, mindestens ein Wechsel mitten im Schuljahr) vor der Tür. Ich habe im Gefühl, dass aktuell vieles bei ihr noch gut läuft (oder besser). Ich habe auch im Gefühl, dass gerade jetzt sehr viel in die falsche Richtung gelenkt werden kann. Ich habe das Gefühl, dass die Mitarbeiterin des Jugendamtes
das genauso sieht, auch wenn sie das nicht gesagt hat.

Ich habe dem Jugendamt angeboten, dass Helena in den nächsten Tagen und auch in den nächsten Wochen bei uns ein Gästezimmer hätte. Bis zum nächsten Wochenende wolle man das Angebot in Anspruch nehmen, man müsse allerdings noch einiges mit dem Familiengericht und dem Vormund klären. Aber erstmal sei das die beste Lösung. Die Mitarbeiterin fragte mich unter vier Augen: „Darf ich Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen? Spielen Sie mit dem Gedanken, Helena dauerhaft bei sich aufzunehmen?“

Ich antwortete: „Das ist eine sehr schwierige Frage. Zuerst weiß ich nicht, was besser ist. Wenn ich für sie eine Anlaufstation in der Not sein kann, so wie ein Kind vielleicht mal zur Oma rennt, wenn es zu Hause zu viel Theater gibt, bin ich sofort dabei. Wenn ich aber wüsste, dass ich Helena damit, dass sie bei uns wohnt, vor etwas Schlimmerem bewahren könnte, dann würde ich mir später ständig Vorwürfe machen, warum ich darüber nicht nachgedacht habe. Also denke ich demnächst darüber nach. Ich weiß noch nicht, ob wir das schaffen würden.“ – „Sie sollten auf jeden Fall darüber ernsthaft nachdenken. Und sich entscheiden. Dafür oder dagegen. Helena wird diese Frage in den nächsten
Tagen stellen, und dann machen Sie vieles richtig, wenn Sie ihr eine klare Antwort geben können. Nicht, ob das klappt. Sondern ob Sie sich das grundsätzlich vorstellen können.“

„Würde ich, würden Marie und ich, würden wir überhaupt eine Chance haben, Helena dauerhaft zu uns zu nehmen?“ – „Eindeutig ja. Nicht so von
heute auf morgen, Regelbewerbungen können auch schon mal ein ganzes Jahr bis zu einer Entscheidung benötigen, aber grundsätzlich ist das denkbar und in so konkreter Lage mitunter auch recht schnell. Wenn sich ein organisierter Weg findet, wie Sie ein plötzliches Kind in Ihre Lebensplanung eingliedern, Sie Kurse besuchen, in denen man Ihnen die Erziehungsfähigkeit bescheinigt, Sie sich umfangreich bewerben und darin
Ihre Ideen, Ziele und Möglichkeiten überprüfbar ausführen, vielleicht noch ein Backup haben, falls Sie mal die Nase voll haben, mit ergänzenden Hilfen so über die Runden kommen, dass Helena alle Betreuung
bekommt, die sie braucht, Ihre eigene Behinderung nicht im Wege steht, dann sind die Chancen durchaus gut. Sie haben einen Joker in der Tasche:
Sie haben nach einem Wochenende eine tiefere Bindung zu dem Mädchen aufgebaut als viele Pflegeeltern es über Jahre schaffen. Sie können es sich ja mal überlegen und mit Ihrer Familie und der Marie besprechen.“

Das werden wir tun. Erstmal habe ich mich an meinen Chef gewandt und ihn gebeten, mich für vier Wochen unbezahlt freizustellen. Für den ersten Moment guckte er mich an, als sei ich nicht zu retten, und fragte: „Da muss aber ein großer Notfall vorliegen. Ich hoffe, es ist niemand gestorben.“ – „Meine Mitbewohnerin und ich haben ein zwölfjähriges Kind vorübergehend bei uns aufgenommen, das schnellstens von seinen prügelnden Pflegeeltern weg musste und für das es keinen anderen Platz gibt. Es muss medizinisch betreut werden. Diabetes Typ 1.“
– „Kann ich dazu etwas Schriftliches bekommen?“ – „Ich kann versuchen, vom Jugendamt etwas zu organisieren.“ – „Das bräuchte ich. Vier Wochen? Schweren Herzens. Und bitte keinen Tag länger.“

Nein. Keinen Tag länger. Aber wenn ich eine Chance haben soll, dieses
Chaos zu ordnen, dann geht das nicht im Schichtdienst. Und hier muss erstmal Ordnung rein. Dringend.

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