Plastikkisten

Inzwischen haben auch Maries Eltern und Helena sich kennengelernt. Sollte es tatsächlich so sein, dass wir uns darum bewerben werden, Helena dauerhaft bei uns aufzunehmen, ginge das nur, wenn Maries Eltern das zumindest ideell unterstützen. Ein gemeinsames Grillen bei uns zu Hause bot eine gute Möglichkeit, sich zu beschnuppern. Ich war vor allem
sehr gespannt darauf, wie Helena mit Maries Papa zurecht kommen würde, weil ich sie bisher noch nie im Dialog mit einem Mann erlebt habe. Manchmal gibt es ja, wenn ein Kind Gewalt durch einen Angehörigen eines Geschlechts ausgesetzt war, grundsätzliche Vorbehalte gegen andere Menschen desselben Geschlechts. War hier aber überhaupt nicht der Fall. Anfangs war sie sehr aufgeregt und schüchtern, das hat sich aber sehr schnell gelegt. Ich weiß, dass Maries Papa normalerweise in der Freizeit
nicht viel über seinen Job als Polizist spricht, aber als Helena interessiert nachfragte, konnte er sie mit einigen Details in seinen Bann ziehen.

Maries Eltern rieten uns am Ende weder zu noch ab, sagten aber, dass sie hinter jeder Entscheidung hundertprozentig stehen. Sie fänden es gut, wenn wir uns für eine dauerhafte Aufnahme von Helena bewerben würden, sofern wir das zeitlich und organisatorisch hinbekämen, sie könnten es aber auch verstehen und vertreten, wenn wir uns dagegen entscheiden. Immerhin wird Helena uns mindestens sechs Jahre beschäftigen, davon ist erstmal auszugehen, und es wird, auch wenn sie derzeit noch so pflegeleicht zu sein scheint, ernsthafte Probleme geben.
Wenn ich wüsste, dass sich das einspielt und Marie und ich mit Helena zumindest im alltäglichen Leben gut zurecht kämen, dann wäre nur der Gedanke daran, einem Kind mit einer Einbindung in unseren Alltag enorm zu helfen, ein großer Lohn. Andererseits haben wir uns beide derzeit ganz bewusst gegen eigene Kinder entschieden – zumindest aktuell. Andererseits ist ein zwölfjähriges Kind auch anders als ein Säugling. Derzeit sagen unsere beiden Herzen „ja“ und unsere beiden Köpfe „nein“. Vermutlich wird das Herz siegen, falls der Kopf keine Argumente mehr findet. Aber es ist wirklich keine leichte Entscheidung. Danke für die vielen Kommentare, die mich gerade überwiegend ermutigen.

Helena, Marie und ich haben heute erneut persönlich mit der Dame vom Jugendamt und mit ihrem Vormund gesprochen. Helena darf auch weiterhin bei uns übergangsweise bleiben. Bis zu einer Dauer von insgesamt acht Wochen sehen die Verantwortlichen keine Schwierigkeiten, solange es Helena gut geht. Das wäre bis Ende September. Das heißt nicht, dass nicht vielleicht in der nächsten oder übernächsten Woche eine geeignete Einrichtung oder übergangsweise eine Bereitschafts-Pflegefamilie zur Verfügung steht, wo Helena zunächst hinkommen kann. Es heißt nur, dass bis dann eine Art „Besuch“, und als solcher wird es im Moment gesehen, prinzipiell möglich ist. Insbesondere soll nächste Woche geklärt werden,
auf welche Schule sie nach den Sommerferien erstmal geht. Und es ist heute dafür gesorgt worden, dass ihre persönlichen Gegenstände erstmal zu ihr kommen. Sie hatte ja bisher lediglich für wenige Tage gepackt.

Insgesamt vier große Plastikboxen bekam ich von einem Mitarbeiter eines Sozialdienstes übergeben, der diese wohl bereits gestern bei Helenas ehemaligen Pflegeeltern abgeholt hatte. Als Helena das Zeug sah,
war sie mehr als aufgeregt, weil wohl entscheidende Dinge fehlten. Also
fuhr, während wir warteten, erneut jemand zu der Adresse und holte auf Helenas Beschreibung unter anderem eine „Schatzkiste“ aus einem Hohlraum
hinter einem Schlafsofa. Das ganze Hab und Gut einer Zwölfjährigen passte in nicht mal ein halbes Dutzend Plastikkisten. Sehr viele Bücher waren dazwischen, eine Sporthose (zu den zwei Jeans, die sie in ihrer mitgebrachten Sporttasche hatte), ein zweites Paar Schuhe, drei Sweatshirts und insgesamt vielleicht acht bis zehn T-Shirts. Ein Dutzend
Unterhosen und vielleicht sechs Paar Socken. Ein wenig persönlicher Kleinkram. Ein Kuschelkissen. Keine einzige Jacke, sondern lediglich ein
etwas dickerer Fleece-Pullover. Ich hätte beinahe gefragt, wo der Rest ist, als sie sagte: „Jetzt scheint alles da zu sein.“

Heute abend war ich zu einem Beratungskurs zum Thema Pflegekinder und
Pflegeeltern. Sechs andere Menschen waren unter den Zuhörern. Es dauerte gut zwei Stunden, mit Hin- und Rückfahrt insgesamt rund viereinhalb Stunden. Die Veranstaltung war inhaltlich eher langweilig. Ich hatte den Eindruck, sie richtet sich an Menschen, denen man wirklich
alles vorkauen muss und die keine eigenen Überlegungen anstellen können. Solche Dinge wie: „Was macht es mit einem Kind, wenn eine Bezugsperon stirbt?“ – Ich hatte gehofft, dort zumindest mehr Entscheidungshilfe zu bekommen. War leider nichts. Vermutlich bin ich mit den falschen Erwartungen dorthin gefahren.

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