Es ist ja keinesfalls so, dass ich nur bescheuerte Kollegen um mich
herum schare. Ich bekomme hin und wieder Kommentare oder Nachrichten, dass der Eindruck entstünde. Nein, selbstverständlich ist die Mehrzahl der Menschen, mit denen ich irgendwie zu tun habe, so, wie ich mir meine
Umwelt vorstelle und wie ich sie akzeptieren kann. Aber darüber jeden Tag zu bloggen, wäre mir zu langweilig. Und ich glaube, das will auch niemand lesen. Und ich glaube auch, dass ich nach über sechs Millionen Klicks behaupten darf, zu wissen, was gelesen wird. Aber hin und wieder muss ich es dennoch erwähnen. Heute zum Beispiel.
Ich beobachte Menschen ja bekanntlich sehr genau. Nein, ich gaffe nicht, aber mir fallen sehr viele Details auf und ich bin auch sehr kritisch. Übrigens auch mit mir selbst. Zwar vorrangig nach meinen eigenen Maßstäben … okay, nicht rumlabern, Socke. Komm auf den Punkt.
Es gibt in meinem Arbeitsbereich einen Kollegen, der demnächst in den
wohlverdienten Ruhestand geht. Hat vor etwa vierzig Jahren Medizin studiert, damals gleich im Anschluss seinen Facharzt in Kinderheilkunde gemacht und dann im Krankenhaus gearbeitet. Ohne Ambitionen, dort aufzusteigen und Karriere zu machen, sondern er hat einfach nur gearbeitet. Irgendwann war er mal für 10 Jahre als angestellter Arzt in einer großen Praxis, seit fünf Jahren ist er wieder in der Klinik. Er ist sehr freundlich, sowohl zu mir als auch zu den anderen Kolleginnen und Kollegen, und ich habe das Gefühl, er mag mich sehr. Er lobt mich regelmäßig, er interessiert sich für mich, betont immer wieder, dass ich
mich bei Fragen immer an ihn wenden kann, fragt immer, wie es mir geht,
wünscht mir immer einen schönen Abend oder ein schönes Wochenende, begrüßt mich, je nach Laune, sogar mal mit „Na, mein Mädchen, wie geht es dir denn heute?“ – auf Plattdeutsch. Ja, wir sind hier im Norden. Und
nein, das ist nicht aufdringlich. Und unaufgefordert würde ich es nicht
sprechen. Aber es ist für mich völlig okay.
Das alles wäre wunderbar, wenn ich nicht immer so hohe Ansprüche hätte. Jeder Mensch hat ja seine Schwächen und vielleicht auch seine Fehler, und gerade andere, ältere Generationen haben lange Zeit nach ganz anderen Werten gelebt. Oder leben heute noch nach ihnen. Und auch wenn sie fachlich vielleicht nicht in jeder Nische auf dem aktuellen Stand sind, so haben sie doch jahrzehntelange Erfahrung, die auch für junge Menschen ein Segen sein kann, wenn sie denn partizipieren dürfen. Dennoch: Ich kriege selbst mit ihm, der es eigentlich so gut mit mir meint, regelmäßig einen Föhn!
Zum Beispiel neulich: Er behauptet vor einer Runde versammelter Studenten, immer im Krankenhaus gearbeitet zu haben und ein Kritiker von
niedergelassenen Ärzten zu sein. Das seien oft Menschen, die nicht teamfähig seien. Mir sind fast die Ohren abgefallen, als ich das beiläufig hörte. Erstmal finde ich diese These schon unmöglich: Wenn ich
an Maries Mama denke, und an ihr Praxisteam, wenn ich daran denke, wie sie Marie und mich im Studium in ihre Praxis eingebunden hat, dann rollen sich mir schon die Fußnägel hoch. Ich habe ihn anschließend direkt darauf angesprochen: „Was erzählst du denn hier für einen Scheiß?
Du bist doch zehn Jahre lang in einer Praxis gewesen! Warum verleugnest
du das?“ – „Das war ja eine Großpraxis, wo wir dennoch im Team arbeiten
müssen.“ – Und dann wird ganz schnell das Thema gewechselt.
Anderes Beispiel: Es gibt einen Kollegen, der eine fundamentale Aversion gegen Akten hat. Der ist fachlich sicherlich sehr gut, aber Dokumentation gehört nunmal zum Job genauso dazu. Ich liebe es, heiß zu baden, aber irgendwann muss ich zumindest mal einen Lappen und etwas Scheuermilch nehmen und die Badewanne auswischen. Irgendwann muss ich mein Rennbike auch mal säubern. Oder das Auto aussaugen. Das gehört einfach dazu. Er nimmt Betäubungsmittel aus dem Schrank und schreibt dazu: Nichts. Das geht nicht. Das fällt auch auf mich zurück, wenn da plötzlich was fehlt. Es ist nicht so, dass er damit Schindluder betreibt. Sondern ich glaube, dass er das völlig korrekt einsetzt. Aber er muss es dokumentieren. Und bekommt deswegen auch ständig Ärger. Er spricht dann immer ganz charmant darüber, wie schlusig er doch sei. Neulich musste ich was eintragen, merke aber, dass der Anfangsbestand nicht stimmt. Also hält das den ganzen Betrieb auf. Die Patientin braucht dringend das Medikament, ich bin anschließend damit beschäftigt,
die Liste in Ordnung zu bringen. Um es nicht melden zu müssen, was der schlusige Kollege sofort als Angriff werten würde. Mein väterlicher Kollege steht plötzlich neben mir und sagt: „War das wieder der schlusige Kollege? Meine Güte, wie ist der überhaupt Arzt geworden? Entweder ist der ständig voll oder bedröhnt, anders kann ich mir das bald nicht mehr erklären. Das haben wir doch schon so oft gesagt.“ – „Redest du mal mit ihm? Als älterer Kollege? Ich habe das jetzt schon so
oft gemacht und jedes Mal ist er hinterher sauer auf mich.“
Was passiert? Er sagt dem schlusigen Kollegen: „Sie ist da halt sehr genau, ist noch sehr jung und so – schreib da einfach irgendwas rein, damit das stimmt und [Socke] Ruhe gibt.“ – Hallo? Wieso fällt er mir in den Rücken? Ich spreche ihn auch darauf an, er sagt: „Dachtest du, ich ändere ihn? Ich habe nur eine Lösung für das aktuelle Problem gesucht. Und um Verständnis für dich gebeten. Da musst du mir schon vertrauen. Alles wird gut. Du musst mehr das Große Ganze sehen, sonst verzettelst du dich.“ – Alles klar, nur die Bücher müssen doch trotzdem stimmen. Sonst brauchen wir den ganzen Zirkus doch nicht zu machen, und wohin das
dann führt, wissen doch alle. Was schreibt er rein? Er hat eine Ampulle
fallen gelassen. Der ist so dämlich, das ist so unplausibel, wenn dann der nächste Eintrag Tage später von einer anderen Person ist. Wenn ich eine Ampulle runterwerfe, dann hole ich mir sofort einen Zeugen, der die
zerbrochene Ampulle sieht, und lasse den das mit unterzeichnen. Und anschließend, und das ist der Knackpunkt, nehme ich die gleiche Ampulle noch einmal raus und mache damit das, was ich vorhatte. Also müsste es zwei Einträge geben. Ist aber nicht mein Problem. Und nein, ich werde nicht petzen gehen. Obwohl es mir gegen den Strich geht.
Drittes Beispiel: Mein väterlicher Kollege kommt auf die Idee, einer jugendlichen Patientin, die bei uns auf der Station liegt, noch ein zusätzliches Medikament zu geben, weil sie so verschleimt ist. Ich will das im Einzelnen nicht beschreiben, weil ich keine inhaltliche Diskussion auslösen will, es ist nur so, dass dieses Medikament in Kombination mit anderen Medikamenten, die sie bereits bekommt, ein absolutes No-Go ist. Steht in jeder Fachinformation, sogar im Beipackzettel, das geht nicht. Sagt er: „Doch, das kann man machen. Zur Nacht nicht, wenn sie schläft, aber tagsüber kann man das durchaus mal tun.“ – Nun muss ich das aber mit verantworten, spätestens wenn ich davon weiß. Ich sehe das nicht nur kritisch, sondern würde das niemals geben, weil ich es anders gelernt habe. Und sage ihm das auch so. Antwort: „Da bist du einfach zu ängstlich. Ich weiß, dass es diese Probleme, die du beschreibst, nicht gibt. Das sind irgendwelche haftungsrelevanten Vorsichtsmaßnahmen des Pharmaherstellers, sonst nichts.“ – Und dann ist er sauer, weil ich den Weg trotzdem nicht mitgehen möchte und mein „Fachwissen“ höher ansetze als seine „Erfahrung“. Und sagt: „Ich werde das bei der nächsten großen Visite ansprechen.“
Ich weiß, ich bin noch lange nicht angekommen. Ich weiß auch, dass es
immer wieder Differenzen gibt. Aber es ist so anstrengend manchmal. Selbst mit Leuten, die es wohl insgesamt gut mit mir meinen. Argh. Ich denke wohl zu viel darüber nach. Und mache mir zu viele Gedanken.