Susi, Föhni, Anwälte

Mich selbst reizt das größte Volksfest des Nordens inzwischen nicht mehr so sehr. Früher bin ich da gerne mal mit meinen Leuten hingefahren, um ein wenig Spaß zu haben; nachdem ich mit diesen Leuten aber inzwischen entweder nichts mehr zu tun habe oder sie selbst auch älter geworden sind, finde ich es nun ganz gut, dass Helena begeistert ist. So muss sie einerseits als Ausrede dafür herhalten, dass man mich doch nochmal dort antrifft, andererseits steckt mich ihre Freude am Karussellfahren auch an.Helena spart dafür ihr Taschengeld. Sie ist ohnehin sehr bescheiden. Es ist nicht so, dass sie nach einer neuen Jeans fragt, sondern dass Marie oder ich sie anpieksen. Sie weiß dann zwar klar, was sie will, aber die Initiative kommt selten von ihr. Vielleicht ändert sich das noch, wenn sie etwas älter wird. Sie gibt auch ihr Taschengeld nicht aus, sondern spart es. Hat kaum eigene Wünsche. „Darf [meine beste Freundin] mitkommen? Ihr würde das Volksfest bestimmt auch viel Spaß machen.“

Ich nenne ihre beste Freundin ab heute mal Kiara. Ich habe übrigens Maries Mutter gefragt, wie sie gerne in meinem Blog heißen möchte. „Nenn mich Susi“, sagte sie albern. Ich erwiderte: „Und dann ‚Susanne‘ für alle etwas ernsteren Themen?“ – „Meinetwegen auch das.“ – „Und wie nenne ich [Maries Papa]?“ – „Föhni“, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen. – Ich antwortete: „Nö. Abgelehnt.“ – „Du weißt, wieso?“ – „Nee?!“ – „Dann googel mal nach Susi Sorglos und ihrem Föhn.“ – Maries Mama fiel ihrem Mann um den Hals und küsste ihn. Sagte dann: „Kein verzauberter Königssohn und auch kein Rasier-Apparat“, blickte zu mir und sagte: „Er hat nicht gelogen. Kannst ihn Otto nennen.“ – Und so heißen Maries Eltern ab heute Susi und Otto.

Zurück zum Volksfest: „Eigentlich wollten wir nach dem Volksfest zu Susi und Otto fahren und dort übernachten, wenn wir schon mal in Hamburg sind“, antwortete ich. Helena guckte mich an: „Und Kiara würde da stören, oder?“ – „Ich müsste Susi zumindest vorher fragen, ob das in Ordnung wäre. Und ich weiß auch nicht, ob Kiara Lust auf fremde Verwandtschaft hätte.“ – „Und wenn wir das so machen, dass Kiara mit uns kommt und wir sie abends in den Zug setzen und ihre Mama holt sie in [nächste größere Stadt] vom Bahnhof ab?“ – „Wenn die Mama das mitmacht und Kiara das möchte, habe ich nichts dagegen. Aber ich bezweifle, dass ihre Mama sie über die Strecke alleine Zug fahren lässt mit 13 Jahren.“

Lange Rede: Irgendwann rief mich die Mama an: Wenn wir sie in Hamburg in den richtigen Zug setzen und ihr eine Nachricht schicken, in welchem Zug sie sitzt, wäre das für sie in Ordnung. Ich muss wohl nicht erwähnen, wie die beiden sich gefreut haben. Helena war Feuer und Flamme. „Meinst du, Susi und Otto haben ihren Gartenpool schon wieder gefüllt und ich kann da morgens schwimmen? Und glaubst du, Otto bringt seine Drohne mit und wir können die hier über Ostern fliegen lassen und ein paar krasse Videos von der Ostsee machen? Meinst du, dass er auch Ostereier im Garten versteckt? Und können wir, wenn das Wetter so schön bleibt, über Ostern auch mal draußen grillen? Darf ich mit Kiara Autoscooter fahren und in [ein Karussell, das sich über Kopf dreht]? Fridolin muss auf jeden Fall mit und ich möchte mir an dem Tag eine Tena anziehen und Kiara und ich wollen uns vorher Eyeliner ziehen und Mascara für die Wimpern und die Haut etwas abpudern. Aber keinen Lippgloss. Und kannst du uns die Haare flechten?“

What? Bisher hat sie sich noch nie geschminkt. Also zumindest nicht, dass ich das wüsste. Mit 13 Jahren hat sich bei mir in der Schule früher niemand geschminkt. Mit 14 haben bei uns einzelne etwas Kayal oder Wimperntusche benutzt. Aber das ist schließlich auch schon über 10 Jahre her. Und eine Tena anziehen? Hatten wir bislang auch noch nicht. Ich fragte mal vorsichtig nach: „Seit wann kennst du dich denn schon so gut mit Schminke aus?“ – „Es gibt ein Video auf Youtube, wo eine Bloggerin zeigt, wie das geht. Und Kiara und ich wollen das jetzt zum Volksfest auch mal ausprobieren. Spricht was dagegen?“ – „Darf ich darüber nochmal nachdenken?“ – „Oh nee. Ganz dezent nur, Jule. Wir haben beschlossen, dass wir da schön aussehen wollen und Kiaras Mutter hat auch nichts dagegen.“ – „Und was ist das mit der Tena?“ – „Da wollte ich dich fragen, ob ich so eine Pants anziehen kann, wenn das da über Kopf geht und so … bevor da was schief geht. Außerdem finde ich diese Toilettenwagen dort mega eklig und ich muss alles anfassen, weil ich nicht frei stehen kann. Ich will nicht so eine Klebewindel wie du, darin werde ich zu fett.“ – „Na vielen Dank.“ – „Ja du sitzt, da sieht das keiner, aber wenn ich aufstehe und in ein Karussell gehe, denken alle, ich habe einen fetten Arsch. Hintern
meine ich.“

Als Marie nach Hause kam, sprach ich mit ihr. „Gegen Schminke hab ich nichts. Solange sie sich wohl fühlt und es nicht nach Babystrich aussieht, aber dann würde ich dagegen konkret was sagen und nicht gegen Schminke an sich. Und wegen der Pampers: Im Studium haben wir gelernt, dass man Bequemlichkeit nicht unterstützen darf. Andererseits gibt es eine Diagnose und du würdest auch nicht ohne über das Volksfest rollen, obwohl es eigentlich möglich sein sollte. Einige Kollegen hätten ihr bestimmt nicht mal einen Rollstuhl verordnet. Also mach es nicht zu kompliziert.“

Also am nächsten Tag im Supermarkt konkret das Alte-Damen-Regal angesteuert und Helena gefragt: „Welche möchtest du?“ – „Die“, sagte sie, ohne nachzudenken. „Die hatte ich auch manchmal bei meinen früheren Pflegeeltern. Mit denen habe ich aber nie drüber gesprochen und irgendwann haben die es mitgekriegt. Da gab es richtig Terror und danach waren sie verboten. Obwohl ich sie von meinem Taschengeld bezahlt habe. Eigentlich brauche ich sie ja nicht, nur wenn mal lange kein Klo in der Nähe ist, ist mir das sicherer. Ich habe beschlossen, dass ich das bei euch nicht nochmal heimlich mache, weil ich mich bei euch nicht dafür schämen muss, dass ich behindert bin. Tschuldigung“, sagt sie, fängt bitterlich zu weinen an und fährt davon.

Es bricht mir das Herz, wie diese Menschen offenbar mit ihr umgegangen sind. Nach fünf Minuten sehe ich sie vor einem Postkartenständer stehen und auf die Postkarten starren. Ich streiche ihr über den Rücken, sie nimmt eine Karte aus dem Ständer und hält sie mir wortlos vor die Nase: „Darf ich dir ein Geheimnis verraten? Ich mag dich noch lieber als Schweinebraten.“ – „Futter mich nicht auf“, antwortete ich. Sie sortierte die Karte wieder ein. „Bin ich manchmal anstrengend?“, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. Nein, sie ist nicht anstrengend. Sie sagte: „Ist im Moment sehr aufwühlend in der Therapie. Aber so gut. Am Anfang will ich immer nicht, am Ende bin ich total aufgewühlt, aber glücklich, dass ich das gemacht habe. Die ersten fünf Minuten fühlen sich an wie eine ganze Stunde, der Rest der Stunde fühlt sich an wie fünf Minuten.“

Ich streichelte ihr über den Rücken. Sie drehte sich um, zog die Nase hoch, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und sagte: „So. Einkaufen. Therapie ist erst nach Ostern wieder dran.“

Gestern sind wir also auf dem Weg nach Hamburg. Vier Personen, drei Rollstühle, Rucksäcke und eine Reisetasche. Kiara und Helena haben vor der Abfahrt eine Stunde vor dem Spiegel gestanden, ich habe beiden Zöpfe geflochten – und beide sahen am Ende sehr hübsch aus. Wesentlich älter. Und wirklich hübsch. Vor dem Volksfest haben wir dann den letzten der zehn Behindertenparkplätze bekommen. Und dann ging es los. Aus dem Autoscooter waren die beiden nicht mehr raus zu bekommen. Fünf Chips für jeden der beiden fünf Euro – war früher billiger, ist aber okay. Die erste Runde drehten sie ganz vorsichtig, bei der zweiten wurden sie von zwei Jungs andauernd angefahren und hatten sichtlich Spaß, ab der dritten Runde wussten sie dann, wie das Ding auch rückwärts fahren kann.

Bei der Kinderbimmelbahn fragte Helena Marie und mich: „Hey, ihr beiden, wäre das nicht was für euch?“ – Dem Frechdachs ging es also gut.

Einen Moment später: „Marie, kannst du mir ne Zuckerwatte wegspritzen?“ – Marie: „Nee, du fragst jetzt mal die Verkäuferin, wieviel Zucker sie nimmt, und dann rechnest du selbst.“ – Gesagt, getan. Ein Teelöffel Zucker, sagte die Verkäuferin, Helena fummelte an ihrer Insulinpumpe rum, zeigte Marie den eingestellten Bolus, Marie nickte, fertig. Eigentlich kann sie das alleine, nur bei der Informations-Beschaffung hapert es manchmal noch. Sie hätte den Nährwert von Zuckerwatte bestimmt auch googeln können.

Ohne Fridolin hätte Helena den kilometerlangen Weg nicht geschafft. So war sie schneller als Kiara, die sich einige Male beschwert hat, weil sie nicht hinterher kam. Am Ende wollte Helena unbedingt noch ein Abschiedsfoto vom Riesenrad machen, das ich auch in diesen Beitrag eingefügt habe. Am Bahnhof setzten wir Kiara in den richtigen Zug. Zurück zum Auto, auf dem direkten Weg zu Susi, und als wir dort ankamen, sagte sie: „Die Tena ist übrigens noch trocken, willst du sehen?“ – „Nee, lass mal, das glaube ich dir so.“ – „Aber jetzt muss ich pissen wie ein Brauereipferd.“ – „Helena, bitte!“ – „Danke. Übrigens Kiara weiß davon.“ – „Wovon?“ – „Na von der Tena. Und zwei andere Freundinnen aus der Klasse auch. Wir haben einen Pakt geschlossen, falls mich mal wieder jemand mit meiner Behinderung aufziehen will, sind die meine Anwälte und auf meiner Seite. Das haben sie geschworen.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert