Trampolin

Helenas Krankenkasse ist halbwegs zur Vernunft gekommen und will ihre Insulinpumpe nun doch vollständig übernehmen. Also zumindest den verordnungsfähigen Teil des Systems. Die Zuzahlung, die anfallen sollte,
weil die Insulinpumpe angeblich einen Gebrauchsgegenstand des täglichen
Lebens ersetzen soll, soll entfallen. Die Krankenkasse hat den Bescheid
trotz angezeigter Vertretung nicht an den Anwalt geschickt, sondern direkt an (die minderjährige) Helena. Die Kohle werde auch nicht an uns überwiesen, die ja die Rechnung bereits bezahlt haben, sondern an die Firma, die uns die Pumpe verkauft hat. Es steht ein Satz im Bescheid: „Bitte setzen Sie sich zwecks Abrechnung Ihrer Vorleistung direkt mit dem Leistungserbringer in Verbindung.“

Auch zum beantragten Handbike (Vorspannbike) haben sie sich gemeldet.
Auch bei Helena direkt. Helena möge eine Bescheinigung ihrer Schule einreichen, dass das Therapiefahrrad (!) für den Schulunterricht benötigt werde. Außerdem werde eine Stellungnahme des Haus- oder Facharztes benötigt, warum neben dem Rollstuhl auch noch ein Therapiefahrrad benötigt wird. What?! Auch gleich zum Anwalt. Sowas kann
ich wirklich nicht leiden. Es ist mir einfach zu dämlich.

Susi und Otto haben Helena zum 13. Geburtstag ein Gartentrampolin geschenkt. Sie wusste davon noch nichts, hatte damals einen Gutschein für eine Überraschung im Sommer bekommen und den an ihre Pinnwand gehängt. Am Freitag hatte Otto Zeit, das Ding aufzustellen. Damit Helena
nicht so hoch klettern muss, und damit es so unauffällig wie möglich bleibt, haben wir uns für eins entschieden, das man in den Boden eingräbt. Das Sicherheitsnetz, das verhindert, dass jemand nach falschem
Abspringen außerhalb des Trampolins auf dem harten Rasen landet, kann beispielsweise im Winter abgebaut werden. Da Susi und Otto nicht für halbe Sachen zu haben sind, hat es rund vier Meter Durchmesser. Weil bei
uns noch keine hohen Bäume wachsen, war das Eingraben zwar schweißtreibend, aber keine übermäßige Herausforderung.

Als Helena von der Schule nach Hause kam, freute sie sich, Otto zu sehen, wusste aber nicht, dass er ihretwegen bei uns war. Otto hatte die
Rolläden zum Garten halb herunter gelassen. Angeblich wegen der zu grellen Sonne. Helena fragte nicht nach, sondern stürzte sich auf die Spaghetti. Als wir fertig waren mit Essen, ließ ich die Rolläden wieder nach oben. Der Blick war frei auf das Trampolin am Ende des Gartens. Es dauerte fünf Minuten, bevor Helena fragte: „Was ist das für ein komisches Netz dahinten? Ist das bei uns oder nebenan?“ – „Marie und Jule haben sich eine neue Kompost-Anlage gekauft, wo im Herbst das ganze
Laub reinkommt“, blödelte Otto, ohne eine Miene zu verziehen. Helena glaubte ihm das erstmal und antwortete: „Und warum stellen wir die jetzt
dorthin und nicht im Herbst?“ – Ich sagte: „Geh mal hin und guck dir das Ding mal genau an.“

Jetzt ahnte sie was und flitzte los. Ging einmal drum herum, musterte
alles genau, testete ganz vorsichtig mit der Hand, wie hart oder weich die Sprungfläche ist, kam wieder zurück und fragte: „Darf ich es ausprobieren?“ – „Wenn du möchtest, darfst du den Geburtstags-Gutschein einlösen. Dann gehört es dir, Helena“, antwortete Otto. Sie guckte ihn erst drei Sekunden mit ungläubigem Blick an, dann sprang sie ihm um den Hals und gab ihm einen Kuss. Dann fragte sie mich: „Darf ich?“ – Ich sagte: „Ja, na los!“ – „Ich zieh mir schnell was anderes an, okay? Jeans
ist nicht so gut dafür. Und ich brauche warme Socken, weil ich ja meine
Schuhe ausziehen muss.“

Fünf Minuten später saßen Marie und ich mit Otto auf unserer Terrasse
in der Sonne, während Helena ihr neues Trampolin erkundete. Wir waren zwar in Sichtweite, aber ich finde es gut, wenn sie das alleine ausprobiert. Wenn sie etwas will, kann sie ja sehr geduldig und zäh sein. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis sie zum ersten Mal aufrecht
auf diesem nachgebenden Boden stand und versuchte, ein wenig hochzuspringen. Vorher ist sie mindestens dreißig Mal wieder umgefallen.
Immer wieder drehte sie sich auf die Seite, ging in den Vierfüßlerstand, Oberkörper hoch, hinstellen. Das Hinstellen war das Schwierigste. Aber irgendwann stand sie, wippte vorsichtig vor und zurück, sprang etwas hoch und lag wieder lang. Ottos Blick war voller Fragezeichen: „Vielleicht wäre ein Bungee-Trampolin besser gewesen?“ – Marie antwortete: „Wir stellen uns hier doch keinen zehn Meter hohen Blitzableiter in den Garten. Warte mal ab. Sie wird das schaffen wollen,
und alles, was dann kommt, ist gut für ihre Koordination.“

Zehn Minuten später kletterte sie vom Trampolin herunter. Und hatte große Probleme, auf dem festen Boden zu stehen. Ohne Orthesen sowieso, nach dem wackeligen Trampolin noch mehr. Ich sah sie schon fliegen, aber
es ging doch gut. „Das ist ganz schön anstrengend. Aber ich schaffe das. Ich muss nur üben. Darf ich Kiara fragen, ob sie zu mir kommt?“

Keine halbe Stunde später war Kiara da. Die beiden flitzten gemeinsam
zum Trampolin. Kiara nahm Helena an beiden Händen und fing an, mit ihr gemeinsam zu üben. Jetzt, wo Helena einigermaßen Stabilität hatte, gelang es ihr auch, die Balance zu halten. Fünf, sechs Sprünge, dann war
erstmal wieder Schluss. Helena und Kiara kamen zur Terrasse. Helena sagte: „Das geht so viel besser, aber erstmal gibt es noch ein neues Problem. BB. Nicht ‚Big Brother‘, sondern ‚Bouncing Bladder‘.“ – Kiara fragte: „Was ist Bouncing Bladder?“ – Helena antwortete: „Meine Spasti-Blase ist so undicht wie die von Oma nach der zehnten Geburt. Deswegen steigen Omas ja auch nie auf Trampoline.“

Trotz der eher coolen Reaktion guckte Helena mich nahezu ängstlich an. Leider ist es wegen des hohen Muskeltonus oft so, dass Menschen mit Cerebralparese auch Schwierigkeiten mit ihrer Blase haben. Der Effekt verstärkt sich natürlich, wenn man auf einem Trampolin auf und ab springt. „Ist okay, Helena. Geh aufs Klo, zieh dir ne frische Hose an und vielleicht ziehst du dir zur Sicherheit noch was drunter.“ – Helena schluckte deutlich sichtbar einen Kloß hinunter. Das neue Trampolin war aber so spannend, dass sie kurz danach wiederkam und dann weiter mit Kiara übte. Kiara war sehr geduldig mit Helena und nach einer weiteren halben Stunde klappte es bereits sehr gut. Beide hielten sich nach wie vor an den Händen, probierten aber jetzt schon, nicht gleichzeitig zu springen, sondern abwechselnd. Auch das klappte. Sie hatten ein Handy daneben gelegt, auf dem Musik lief, und waren seit einer Stunde ununterbrochen am Quatschen und Lachen. Otto wurde zunehmend entspannter
und schickte erstmal ein Kurzvideo an Susi.

„Ich werde morgen so einen fiesen Muskelkater haben“, sagte Helena, als ich sie abend rein holte. „Meine Knie zittern, meine Arme tun weh, aber es war toll.“ – Die beiden entschieden spontan, dass Kiara bei Helena übernachten sollte. Uns war es recht, Kiaras Mama auch. Beide gingen duschen, Kiara bekam anschließend Short & Shirt von Helena, eine Zahnbürste von mir, ich bezog noch ein weiteres Kopfkissen und nach
dem Abendessen verschwanden sie in Helenas Zimmer. Als ich um neun einmal nach Helenas Zucker schauen wollte, immerhin hatte sie heute ungewöhnlich viel Sport, leuchtete eine Nachttischlampe, eine Bluetooth-Box spielte irgendeine Playlist ab und zwei Teenys lagen völlig fertig im Bett, hatten alle Viere von sich gestreckt und schnarchten um die Wette. Ich deckte Kiara richtig zu, las Helenas Blutzucker ab, stellte das Gedudel und das Licht aus und rollte wieder nach draußen.

„Pennen beide tief und fest“, sagte ich zu Marie. Sie hatte zwischenzeitlich den Kamin zum Brennen gebracht. Otto blieb noch eine gute Stunde, dann fuhr er zurück zu seiner Susi. Kaum waren Marie und ich alleine, kam Kiara aus dem Bett. „Kann mal bitte jemand nach Helena schauen? Sie atmet so komisch und zuckt.“ – Oh nee. Ich setzte mich vom Sofa in den Rolli, flitzte in ihr Zimmer. Marie kam hinterher. Die Nachttischlampe leuchtete. Helena schwitzte, atmete relativ schnell, murmelte irgendwas. Bewegte hin und wieder den Kopf hin und her, zuckte immer mal wieder mit einer Hand. Die Augenlider waren zwar geschlossen, aber man konnte eine ausgeprägte Bewegung der Augen erkennen. „Sie träumt nur“, sagte ich. Ich setzte mich zu ihr auf das Bett, legte einen
Arm um ihren Oberkörper, streichelte ihr mit der anderen Hand durch das
Gesicht. „Hey, Helena! Alles okay? Helena?“

Im gleichen Moment fuhr sie hoch: „Waswaswas?“ – Als sie mich erkannte, ließ sie sich wieder auf das Kissen fallen, seufzte und sagte:
„Ich hab voll den Mist geträumt. [Der frühere Pflegevater] wollte mich zurück holen und wollte mich mit Süßigkeiten locken. Und ich wusste die ganze Zeit, dass ich in Gefahr bin, aber ich durfte mir nicht anmerken lassen, dass ich den Süßigkeiten-Trick durchschaut hatte. Ich wollte abhauen, aber aus irgendeinem Grund ging das immer nicht.“ – „Du bist bei uns und niemand holt dich zurück. Atme mal tief durch und drücke mal
meine Hand ganz fest. Das war nur ein böser Traum. Lass uns mal bitte einmal nach deinem Zucker gucken.“ – Der war aber normal. Kiara legte sich wieder zu Helena ins Bett und sagte: „Wenn ich schlecht träume, mache ich erstmal Licht an und dann gucke ich erstmal einen Moment Fernsehen, damit mein Gehirn etwas anderes verarbeitet und den Traum vergisst. Wir könnten vielleicht noch einen Augenblick quatschen. Und nochmal über das Trampolin reden oder so.“ – Gute Idee.

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