Elternabend

Ich war kürzlich beim Elternabend. Ich hätte nicht vermutet, dass ich so schnell einmal selbst zum Elternabend gehen würde. Der letzte fiel krankheitsbedingt komplett aus, zum allerersten dieses Schuljahres war Marie dort, da waren allerdings nur fünf weitere Personen vor Ort. Dieses Mal musste Marie arbeiten, also war ich vor Ort. Helena war spürbar verunsichert an dem Nachmittag davor, ich fragte sie noch, ob wir vorher noch über irgendwas reden wollen, aber sie sagte: „Das Schwierige ist, dass ich nie so genau weiß, ob ich alles richtig gemacht
habe.“

Ich erklärte ihr dann nochmal, dass sie nicht alles richtig machen muss. Sondern dass sie ein gutes Gewissen und ein gutes Gefühl mit dem haben sollte, was sie tut. Und falls das einmal nicht so ist, sollte sie
darüber sprechen und bereit sein, für die Zukunft etwas daran zu ändern. Sie sagte: „Aber manchmal denke ich, es ist alles gut, und dann kommt ganz plötzlich irgendwas auf mich zu, was doch nicht so gut war.“ –
„Dass immer alles gut ist, kann dir niemand garantieren. Aber wichtig ist, und das sage ich gerne nochmal, dass du mit dem, was du tust, ein gutes Gefühl hast. Vertraue auf deinen Bauch, höre auf dein Herz, schalte deinen Verstand ein und sei offen für Kritik.“

Der Elternabend selbst war inhaltlich überschaubar. Es steht noch eine Klassenfahrt an. Fünf Tage wollen sie nach Bayern. Ein männliches Elternteil fragte tatsächlich, ob Helena nicht zur Klassenfahrt ihren Rollstuhl zu Hause lassen könnte, weil das doch die Möglichkeiten aller sehr einschränke. Ich musste darauf aber gar nicht reagieren, vor mir platzten schon drei anderen Müttern die Krägen. „Das ist doch nicht Ihr Ernst“, „Habe ich das wirklich gerade gehört?“ und irgendwas mit „Problem erkannt“ riefen sie durcheinander. Der Vater legte noch einmal nach: „Bevor sich alle so aufregen, möchte ich noch die Information liefern, dass das Kind zeitweilig auch ohne Rollstuhl zurecht kommt und damit offensichtlich steuern kann, wann es ihn braucht und wann nicht. Es wäre also für alle anderen 22 Schüler von Vorteil, wenn das eine Kind
den während der Klassenfahrt mal nicht bräuchte und im Gegenzug alle 23
Kinder auf Berge klettern, Sommerrodelbahnen herabbrausen, ins Schwimmbad gehen und Sessellift fahren können, statt langweilige Museen anzuschauen und Abende in der Oper zu verbringen.“

Eine der beiden Lehrerinnen meldete sich zu Wort: „Ich bin entsetzt, einen solchen inakzeptablen Vorschlag unterbreitet zu bekommen. Noch dazu in Gegenwart der Pflegemutter, die auch noch selbst im Rollstuhl sitzt.“ – Nun lenkte er vom Thema ab: „Soweit ich weiß, gibt es doch zwei Pflegemütter. Und wenn ich mich richtig erinnere, saß die andere doch auch im Rollstuhl.“ – Ich konnte mich nicht mehr zurück halten und sagte: „Na, das ist ja ein Ding.“ – „Finden Sie auch, oder? Aber ich sage ja gar nichts, jede Zeit bringt ihre Veränderungen, und heute dürfen eben auch zwei Frauen zusammenleben und eigene Kinder haben.“

Okay. Er ist doof und will provozieren. Also lass ich das unkommentiert. Erschreckend finde ich, was solche Haltung der Eltern bei
den Kindern auslöst. Oder anders: Kein Wunder, wenn Kinder mobben, wenn
die Eltern ihnen eine derartige Intoleranz vorleben. Weil ich nicht antwortete, ergriff ein anderer Vater das Wort. Er sagte: „Selbst meine Eltern hatten noch was gegen Homosexualität. Sie haben die Musik von Elton John gerne gehört, bis sie herausgefunden haben, dass er homosexuell ist. Dann mochten sie ihn nicht mehr, weil er angeblich seine Songs mit schwuler Feder geschrieben hatte. Als meine Eltern so redeten, war mir klar, dass ich eine andere Generation bin. Aber dass Sie jetzt solche Ansichten vertreten, kann ich nicht verstehen. Ich habe
nichts gegen Homosexualität und ich finde es toll, dass die beiden Frauen trotz ihrer Behinderung ein Kind aufgenommen haben, das offenbar selbst eine Behinderung hat. Darf ich fragen, wie lange Sie ein Paar sind?“

Ich sagte: „Wir sind seit Jahren sehr eng befreundet. Aber wir haben keine Beziehung miteinander.“ – Darauf fängt doch der Vater, der gerne 23 Kinder beim Bergsteigen hätte, zu lachen an und sagt: „Also die Lüge ist ja inzwischen auch ein legitimes Mittel, sich zu verteidigen.“

Was soll ich darauf erwidern? Die Lehrerin fährt mit ihrem Gesprächsprogramm fort, der Vater grinst sich einen und geht zwischenzeitlich drei oder vier Mal mit dem klingelnden Handy vor die Tür … ich habe selten zuvor jemanden so unsympathisch gefunden.

Am Ende sagte die Lehrerin, dass das Programm, das für die Klassenfahrt geplant sei, mit der Klasse und auch mit Helena besprochen worden sei und Helena offenbar sehr genau wisse, was sie könne und was nicht. Allerdings habe die Lehrerin Bedenken wegen des Diabetes und wünsche sich, dass eine Begleitperson, zum Beispiel Marie oder ich, mitfahren würden. Ich habe allerdings gesagt, dass ich davon ausgehe, dass sie die Woche ohne Hilfe auskommen wird und ich jederzeit bei Problemen erreichbar bin. Wir haben, seit die neue Pumpe da ist und seit
sich das einigermaßen eingespielt hat, keine einzige Situation mehr gehabt, in der Marie oder ich irgendetwas unternehmen mussten. Wenn was zu unternehmen war, hat Helena das selbständig und richtig entschieden. Zwar meistens in Abstimmung mit Marie oder mir, aber es gab keine Situation, die Helena, wenn sie auf sich gestellt ist, nicht alleine bewältigt hätte. Von daher möchte ich eigentlich ganz bewusst darauf verzichten, sie zu begleiten.

Spannend fand ich dann noch, dass offenbar vor rund drei Wochen eine Gruppe aus vier oder fünf Schülern ein Video herausgebracht haben soll, in dem es um das Körpergewicht eines wohl übergewichtigen Schülers gehen
soll. Es soll damit begonnen haben, dass die Mutter bei der Geburt gestorben sei, weil das Kind zu fett war. Die Eltern dieser Schüler seien mit der Schule im Gespräch, man wolle aber nunmehr alle informieren. Helena hat mir davon gar nichts erzählt. Wie sich später herausstellte, wusste sie davon gar nichts. Vielleicht müssen Marie und ich das positiv sehen, weil sie offenbar nicht mit den falschen Leuten zusammen war. Mich erschreckt aber einmal mehr, welche Übergriffigkeit unter den Jugendlichen stattfindet und scheinbar an der Tagesordnung ist.

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