Mal wieder Rucksack

Ich hatte ja ein wenig Befürchtungen, dass die Medikamente in meinem Notfallrucksack ablaufen, bevor sie eingesetzt werden. Ja, wer es
nicht lesen will und behaupten möchte, dass mein Magnet neben irgendwelchen Idioten auch noch das Unglück magisch anzieht, der soll es
tun und weiterblättern, denn: Ich habe in der letzten Woche schon wieder Erste Hilfe leisten müssen. Müssen, denn das Gesetz erwartet es von mir, wenn ich so etwas studiert habe.

Ich wollte unbedingt noch bis 18 Uhr zur Post, musste noch ein Paket loswerden. Und ein Einschreiben. Ich wollte Briefmarken kaufen. Und bei meiner Bank etwas unterschreiben. Stattdessen sah ich, wie in etwa 150 Meter Entfernung eine Frau über die Fahrbahn lief. Die Straße war an dieser Stelle zweispurig, also pro Richtung eine Fahrspur, durch eine gestrichelte Mittellinie unterteilt. Sie wollte einen Bus erreichen, der
auf der gegenüberliegenden Seite in einer Bushaltebucht wartete. Ob sie
geschaut hat, weiß ich nicht, jedenfalls offenbar nicht in beide Richtungen. Über den ersten Fahrstreifen kam sie hinweg, im zweiten lief
sie direkt vor einen weißen Opel, im Nachhein denke ich, es war ein Crossland X. Trotz Vollbremsung erfasste er die Frau mit letzter Restgeschwindigkeit mit seiner vorderen rechten Ecke. Die Frau stolperte
und fiel hin. Auf die Entfernung sah es erstmal nicht ganz so heftig aus. Mehr konnte ich aber auch nicht sehen.

Vor mir steuerten bereits zwei andere Personen ihre Autos auf den Radweg und stiegen aus, um der Frau zu helfen. Sie lag am Boden, war offensichtlich ansprechbar, und hielt sich den linken Arm. Aus dem weißen Opel stieg ein geschätzt fünfzig Jahre alter Mann mit schwarzer Hautfarbe, der sofort zu der verletzten Frau lief, sich neben ihr auf den Bordstein setzte und die Hände vor sein Gesicht schlug. Der Bus, den
die Frau erreichen wollte, fuhr ab und kurvte dabei umständlich um das stehende Unfallauto herum. Ich fuhr mit meinem Auto an der Unfallstelle vorbei und versuchte, nach links auf die Bushaltebucht zu kommen. Ich wollte auf keinen Fall im fließenden Verkehr aussteigen. Es war schwierig, jemanden aus der wartenden Schlange zu überzeugen, mal einen Moment stehen zu bleiben, um mich dorthin durchzulassen. Blinken nützte nichts, nur meine Hamburger Dreistigkeit (HDL = Hupen, Drängeln, Lächeln) brachte Erfolg. Ich stellte mein Auto gegen die Fahrtrichtung in die Bushaltebucht und konnte so auf der dem Verkehr abgewandten Seite
aussteigen.

Inzwischen schrie die Frau, hatte vermutlich Schmerzen. Rund ein Dutzend Menschen stand herum und glotzte. Eine Frau, geschätzt 55 Jahre alt, versuchte, auf die verletzte Frau einzureden. Sie verstand sie offensichtlich nicht, und wie sich später herausstellte, war die verletzte Frau in Kabul geboren und vermutlich noch nicht lange in Deutschland. Problematisch fand ich, dass die Frau bei der Kollision sich offenbar eine größere Gefäßverletzung am linken Arm zugezogen hatte. Das Blut lief in Strömen und die Frau versuchte panisch, ihre eigene Blutung zu stoppen, indem sie den Daumen der anderen Hand in die Wunde presste, was aber nichts brachte.

Der Fahrer des weißen Opel weinte inzwischen und wimmerte: „Ich habe gebremst so stark wie ich konnte. Ich wollte das nicht.“ – Ich öffnete mit der Fernbedienung meine Heckklappe und bat einen der umstehenden Zeugen, die mit dem Auto angehalten waren, meinen Notfallrucksack unter der Ladefläche herauszuholen. Die Frau, die sich bereits um die verletzte Frau kümmerte, war eine Krankenschwester. Sie erkannte richtig, dass die massive Blutung sofort gestoppt werden müsste. Der Sauerei nach würde ich mal vermuten, dass in den zwei Minuten seit dem Unfall locker ein Liter Blut aus dem Arm gelaufen war. Problem war, dass
die Frau sich wehrte, sobald jemand ihren Arm berührte. Blutet das so weiter, wäre es nur noch eine Frage von Minuten, bis sie das Bewusstsein
verliert. Nur das galt es eigentlich zu vermeiden.

Ich rutschte aus dem Rollstuhl auf den Boden, setzte mich auf Knie und Fersen vor die Frau. Inzwischen war mein Rucksack da. Die verletzte Frau hörte auf zu schreien und guckte mich an. Ich fragte: „Verstehen Sie mich?“ – „Nicht gut deutsch“, sagte sie. „English?“, fragte ich. Sie
antwortete: „Little.“ – Ich versuchte es so: „Doktor help. Arm: Nix gut. Doktor help. Okay?“ – Und bevor sie noch lange herumhampeln konnte,
hatte sie einen Stauschlauch am Oberarm. Zugezogen, ein kurzer Schrei, Ende von Blutung. Natürlich könnte sich das negativ auf eventuelle Verletzungen des Arms auswirken, aber das ist in dem Moment definitiv zweitrangig. Ich sagte: „Andere Seite einen großen Zugang, und dann den Fahrer mal aus dem Geschehen rausnehmen, am Besten in das Haltestellenhäuschen setzen und ne Decke über die Schultern legen und beruhigen.“ – „Mach ich“, sagte der Mann, der schon meinen Rucksack geholt hatte. Die verletzte Frau wurde blass und weinerlich. Ich dachte mir so: Jetzt bitte nicht noch einen Kreislaufstillstand. „Hat schon jemand einen Rettungswagen gerufen?“

Hatte jemand. Direkt nach meiner Frage hörte man den auch schon. Dem Lärm nach kamen da auch mindestens zwei Fahrzeuge. Das zweite war die Polizei. Die Besatzung des Rettungswagens forderte sofort den Notarzt nach. Anschließend holten sie die Trage, als die Frau vernünftig lag, versorgte die Sanitäterin den gestauten Arm mit einem Druckverband. Die Frau blieb bei Bewusstsein. Meine Infusion war daran wohl nicht ganz unbeteiligt. Die Polizistin fragte, was geschehen sei. Die Frau sagte: „Ich nicht gesehen Auto. Bus kam. Straße gelaufen. Ich Fehler gemacht. Mann bitte Entschuldigung. Polizei bitte Entschuldigung.“

Die Sauerstoffsättigung lag bei 99%, der Blutdruck bei 130 zu 110, Puls unter 100, keine Anzeichen für einen Schock. Auch wenn der durchaus
an der Tür geklopft hatte bei dem Blutverlust. Aus meiner Sicht müsste hier kein Notarzt kommen, aber das habe ich ja nicht zu entscheiden. Ein
Mann kam hinzu, offenbar der Partner der verletzten Frau. Er war völlig
aufgeregt, kam mit mehreren anderen Männern zusammen angelaufen. Die Frau sprach mit ihm. Hektische Wortwechsel. Kein Wort zu verstehen. Dann
sagte er zu der Polizistin: „Meine Frau sagt, sie hat Fehler gemacht. Nicht geguckt ob Auto kommt.“

Ich kletterte wieder in meinen Rollstuhl. Rollte zu dem Opelfahrer. Der saß in dem Haltestellenhäuschen und weinte. Der Zeuge versuchte, ihn
zu beruhigen. Ich sagte: „Machen Sie sich keinen Kopf. Sie haben alles richtig gemacht. Es gibt Dinge im Straßenverkehr, die kann man nicht verhindern.“ – „Ist sie schwer verletzt?“ – „Nein. Wie es aussieht, hat sie nur eine stark blutende Wunde am Arm und deshalb ein paar Probleme mit dem Kreislauf. Sie kommt jetzt ins Krankenhaus und wird dort einmal durchgecheckt, aber es sieht nicht so schlimm aus.“ – „Ich möchte keinen
Ärger. Ich lebe friedlich in diesem Land und ich wollte das nicht.“ – „Ihnen wird nichts passieren. Die Zeugen haben alle ausgesagt, dass sie Ihnen vor den Wagen gelaufen ist. Die Frau selbst hat das auch schon zur
Polizei gesagt. Ich rate Ihnen, sagen Sie nichts zur Sache, sondern warten Sie erstmal ab. Das Recht haben Sie.“ – „Ich habe Angst, dass ich
die falsche Hautfarbe habe.“ – „Nein, da machen Sie sich mal keine Sorgen, wir sind ja alle dabei.“

Die Angst war völlig unbegründet. Die Polizistin sprach mit dem Mann und sagte: „Sie bekommen von uns die Daten der Unfallgegnerin, die bereits eingeräumt hat, den Unfall verursacht zu haben. Die Zeugenaussagen stimmen auch alle überein. Danach ist die Frau Ihnen direkt vor das Auto gelaufen. Mein Kollege macht jetzt noch Bilder vom Unfallort. Ich müsste einmal Ihren Führerschein und Ihren Personalausweis sehen und die Papiere vom Fahrzeug.“ – „Ist mein Führerschein weg?“ – „Nein, wie kommen Sie denn darauf? Ich möchte nur Ihre Daten haben. Den Führerschein bekommen Sie gleich wieder. Sie haben
sich ja nichts zu Schulden kommen lassen. Ich nehme von Ihnen auch keine Aussage auf, weil Sie neben sich stehen. Es kann sein, dass Sie nochmal angeschrieben werden, aber vermutlich kommt da nichts mehr.“ – „Ist es schlecht, keine Aussage zu machen?“ – „Nein, Ihre Aussage ist nichts wert, wenn Sie aufgewühlt und unter Schock stehen. Und wir brauchen die Aussage auch nicht. Wir wissen auch so schon, dass Sie sich
nichts zu Schulden kommen lassen haben. Wenn das bei der Staatsanwaltschaft noch jemand anders sieht, nehmen Sie sich einen Anwalt und dann können Sie immernoch eine vollwertige Aussage machen. Aber ich glaube nicht, dass da noch was kommt. Auch gegen die Frau nicht. Die ist mit ihrer Verletzung gestraft genug, da muss man ihr nicht noch ein paar Euros abknüpfen, die sie vermutlich sowieso nicht übrig hat. Gibt es jemanden, der Ihr Auto einparken kann? Weil, sie sollten damit jetzt so nicht weiterfahren in Ihrem Zustand.“

Er hatte bereits seine Frau angerufen, die in diesem Moment eintraf. Der Notarzt guckte die Frau an, fuhr anschließend gleich zum nächsten Einsatz weiter. Am Ende waren alle weg. Socke packte mit Hilfe der Krankenschwester ihren Rucksack zusammen, räumte den ganzen Erste-Hilfe-Müll ein wenig zusammen und packte ihn in den Eimer an der Haltestelle und machte sich auf den Heimweg. Bedankt hatte sich niemand in der Aufregung. Einer geflüchteten Frau aus Kabul eine Rechnung zu schreiben, war vermutlich auch aussichtslos. Nachdem der Rettungswagen mir leider meine Verbrauchsmaterialien nicht ersetzen konnte, kann ich vielleicht bei Susi demnächst mal wieder was zum Einkaufspreis abgreifen. Als ich einstieg, hielt der nächste Bus. Auf der Fahrbahn. Der Busfahrer öffnete die vordere Tür und pöbelte in militärischem Tonfall: „Nur weil du behindert bist, heißt das nicht, dass du da parken
darfst.“ – Dabei traten ihm fast die Augen aus den Höhlen. Ich lächelte
freundlich und erwiderte seinen Gruß durch korrektes Anlegen der rechten Hand an den Kopf.

Zur Post, zur Bank, Einschreiben mit Frist konnte ich alles vergessen. Es war weit nach 18 Uhr. Aber wenn die Pflicht ruft und ich gebraucht werde …

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