Salz in der Luft

Seit rund einem Dreivierteljahr lebt Helena nun schon bei uns. Ich muss sagen, dass ich mir einige Dinge sehr viel schwieriger vorgestellt habe. Wobei ich den Tag nicht vor dem Abend loben möchte, denn wer weiß schon, was alles noch kommt. Aber für den Moment kann ich sagen: Helena ist im Alltag absolut pflegeleicht und eine wunderbare Bereicherung. Nein, es läuft nicht alles wie am Schnürchen und ja, es gibt durchaus unterschiedliche Meinungen. Ein Diabetes ist nicht einfach, eine Cerebralparese, und sei sie noch so diskret ausgeprägt, ist eine körperliche Einschränkung.

Andere Dinge habe ich mir, und das muss ich gestehen, auch sehr viel einfacher vorgestellt. Einfacher nicht als Gegenteil von schwierig, sondern als Gegenteil von Individualität. Insbesondere Helenas Erlebnisse mit den bisherigen Pflegeeltern und ihre Psychotherapie sind eine krasse Belastung. Sie erfordern sehr viel Einfühlungsvermögen, und das, während sie mit uns ganz bewusst nicht über die Inhalte der Therapie und nur sehr selten über Einzelheiten aus ihrem bisherigen Pflegeelternverhältnis redet. Der Therapeut redet selbstverständlich auch nicht mit uns über Inhalte, aber dennoch wissen Marie und ich und natürlich auch Maries Eltern, dass Helena sich damit enorm quält. Aber: Auch wenn die Therapie und das Verarbeiten noch so anstrengend ist, wir merken (und sie bestätigt das auch), dass es ihr mittelfristig gut tut.

Die Begleitung dabei ist auch für uns eine enorme emotionale Herausforderung. Auf der einen Seite haben wir ein zerbrechliches Wesen, dessen Seele enorm und immer wieder verletzt wurde, auf der anderen Seite ist sie so zäh und so orientiert und klar, dass es ganz viel Vertrauen dafür braucht, zu akzeptieren, dass sie reif genug ist, damit richtig umzugehen. Die größte und stärkste Vertrauensgrundlage ist wohl, dass Helena uns gegenüber nicht lügt. Das ist eine ungeheure Herausforderung für jemanden, der über Jahre gelernt hat, dass er mit Lügen weiterkommt und dieses Prinzip auch bis zum Einzug bei uns täglich angewendet hat. Marie und ich waren beide darauf gefasst und haben uns vorher schon Pläne gemacht, wie wir damit umgehen, wenn sie uns anlügt. Diese Pläne mussten wir nie in die Hand nehmen. Selbst Dinge, die auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen, haben sich hinterher immer als wahr bestätigt. Anfangs fiel ihr das sichtbar schwer, inzwischen ist sie sehr viel selbstsicherer geworden und kennt vor allem die Antworten: „Kein Kommentar“, „Darauf möchte ich nicht antworten“ oder sogar „Ich finde, das geht dich nichts an.“

Marie oder ich holen sie nach ihrer Psychotherapie regelmäßig mit dem Auto ab. Wir möchten, dass sie direkt nach Hause kann, dass sie jemanden neben sich hat, dass sie niemandem mehr über den Weg laufen muss. Anfangs war es sehr schwierig für mich, beim Einsteigen nicht mal begrüßt zu werden. Sie setzt sich hin, schnallt sich an, starrt ins Leere. Weint, schluchzt, guckt aus dem Fenster. Steigt zu Hause aus, geht ohne ein Wort in ihr Zimmer, hängt „bitte nicht stören“ an die Tür, legt sich aufs Bett und guckt an die Decke oder guckt aus dem Fenster. Es ist so schwer, geduldig abzuwarten. Es ist so schwer, zu verstehen, dass sie den Weg zu uns kommen muss und dass jede Annäherung von uns zu aufdringlich wäre. Sie hat hier einen sicheren Hafen und sie braucht eine Rückzugsmöglichkeit, in der niemand Fragen stellt.

Helena hat seit etwa zehn Wochen für ihren Rollstuhl ein Vorspannbike. Zum Austesten als Vorführmodell vom Hersteller ausgeliehen, bis die Krankenkasse sich rührt. Leider rührt sie sich nicht wirklich, und leider ist das Vorführmodell auch nicht der Hit. Wir werden wohl ein anderes nehmen und das demnächst auch kaufen, damit wir
im Sommer gemeinsam „radeln“ können. Helena nutzt das Ding dennoch sehr intensiv, um beispielsweise zu ihrer Freundin zu kommen.

Und nun kommt es: Zum ersten Mal Anfang April, am Abend nach einer Therapiestunde, draußen ist es bereits dunkel, dackelt Helena mit einem Fleecehoodie in der Hand in die Küche, nimmt sich eine Flasche Malzbier aus dem Kühlschrank, packt sie in einen Rucksack, und will mit Rolli und Handbike los. Seit der Therapie hatte sie noch kein Wort gesagt. Ich frage also: „Hast du mal auf die Uhr geguckt? Wohin willst du?“ – „Raus. Ich brauche nochmal frische Luft. Ich bin in zwei Stunden wieder zurück.“ – „Nee, Helena, Moment mal. Du bist 13 und draußen ist es dunkel. Was hast du vor?“

Mir wurde wirklich angst und bange. Sie sagte: „Mach dir keine Sorgen. Ich brauche nur einen Moment frische Luft.“ – „Dann setz dich auf die Terrasse, da ist auch frische Luft.“ – „Vertraue mir einfach. Ich bin in zwei Stunden wieder da.“ – Ich musste binnen Sekunden eine Entscheidung treffen: Entweder sie mit körperlicher Gewalt zurückhalten, also sie am Arm festhalten, die Tür abschließen oder ähnliches, oder eine 13jährige am späten Abend bei völliger Dunkelheit alleine losziehen lassen. Wissend um die ganzen Gangster, die auch in unserem idyllischen Örtchen frei herumlaufen, wissend um den Straßenverkehr, den es auch hier gibt, wissend um einen Diabetes, der bei körperlicher Angespanntheit gerne mal herumspinnt.

Ich weiß, dass viele in diesem Moment „Nein“ gesagt hätten. Ich am liebsten auch. Mein Kopf hat es mir auch eindringlich befohlen. Mein Herz hat gesagt: „Vertraue ihr.“ – Ich sagte: „Du nimmst ein Handy mit und lässt es eingeschaltet. Richtig?“ – „Meinetwegen.“ – „Und du tust dir nichts an. Schau mich an.“ – „Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“ – „Schau mich an!“ – „Nein! Mach ich nicht.“ – „Was hast du mit der Flache vor?“ – „Jule, du nervst! Was will ich wohl mit einer Flasche Malzbier? Unterwegs austrinken.“ – „Ohne Flachenöffner?“ – „Die krieg ich am Rolli auf. So tschüss jetzt. Bis später.“ – Die Tür fiel ins Schloss und ich hörte, wie sie draußen sagte: „Das ist vielleicht alles ein Drama hier heute…“

Sie war dann knapp zwei Stunden später wieder da. Ich war schon im Bett und hatte noch einen Text für meine Fortbildung gelesen. Helena ging als erstes duschen, dann kam sie mit Flausch-Schlafanzug zu mir. „Darf ich bei dir schlafen?“ – Bevor ich irgendwas hörte, bevor ich eine Frage stellen konnte, war sie eingeschlafen. Der Zucker war in Ordnung. Ich musste mich also noch länger gedulden. Oder akzeptieren, dass es mich nichts anging, was sie gemacht hatte. Immerhin war sie pünktlich wieder da.

Am nächsten Abend erzählte sie mir dann, dass sie zum Strand gefahren war. Sie habe sich auf eine Düne gesetzt und das Wasser beobachtet, in dem sich der Mond spiegelte. Meistens ist es, gerade an sonnigen Abenden, ja nachts windstill und die Wasseroberfläche der Ostsee ist glatt wie ein Spiegel. Wenn sich dann der Mond dort spiegelt, kann das sehr mystisch aussehen, aber mitunter auch sehr gespenstisch. Auf dem Weg zum Deich und auf den Wegen hinter den Deichen steht nicht eine einzige Laterne. Und hinzu kommt, dass der Weg, den sie genommen hat, zwar vorbildlich war, weil sie dann die Bundesstraße nicht überqueren musste, auf der nachts auch gerne mal Leute 140 statt der erlaubten 70 bis 100 fahren, aber insgesamt sind das locker 15 Kilometer. Also rund 45 Minuten reine Fahrtzeit.

„Warst du alleine da?“, fragte ich. Sie antwortete: „Nee, da standen ein paar Schafis rum, die erstmal voll den Lärm gemacht haben, als ich kam. Auch wenn die Dunkelheit irgendwie ein wenig unheimlich ist, diese Einsamkeit dort ist gut, um sich mal auszuheulen. Ich finde, das geht besonders gut, wenn man den Mond auf dem endlosen Meer sieht und hin und wieder mal eine Möwe oder sogar ein kleines Schiff. Und wenn sich das Salz der Tränen und das Salz in der Luft vermischen, dann fühlt sich das so an, als würde mich jemand verstehen. Aber irgendwann ist es dann auch genug. Zu viel Flennen macht die Nase dicht, Kopfschmerzen, und irgendwann muss der Stein, den man da gerade aus der Seele geklopft hat, ja auch mal aufgelöst sein. Außerdem wird es irgendwann kalt, wenn man sich da zu lange hinsetzt.“

„Und dann?“, fragte ich, erstaunt und beängstigt zugleich über eine 13jährige, die über Salz von Tränen und Meeresluft philosophiert. Sie antwortete: „Dann hab ich einmal kräftig in den Sand gepinkelt und vom Malzbier drei bis acht Mal laut gerülpst, so genau habe ich das nicht gezählt, und dann bin ich völlig entspannt zurück gefahren.“

Seitdem hat sie das noch vier weitere Male gemacht. Nachmittags Therapie, abends mit dem Handbike und einer Flasche Malzbier an den Strand; sobald es nicht zu kalt war und nicht geregnet hat, hat sie sich dort offenbar ausgeheult. Sie braucht das scheinbar, sie findet sich zurecht, sie kommt zuverlässig wieder zurück. Ich werde es ihr wohl nicht verbieten können. Ich kann nur hoffen, dass dort nicht mal irgendeine zweifelhafte Gestalt auf sie wartet.

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