Alleine sein

Aktuell ist ja sehr lange hell. Im Norden sogar noch etwas länger als im Süden. Helena verschwindet regelmäßig, wenn die Psychotherapie zu aufwühlend war, mit einer Flasche Malzbier und ihrem Handbike für etwa zwei Stunden. Sie fährt ans Meer, setzt sich auf eine Düne, schaut auf das endlose Meer, ordnet ihre Gedanken, rekapituliert noch einmal die Stunde, weint, verarbeitet und gibt sich irgendwann den Ruck, diesen Happen abzuschließen und herunterzuschlucken. Anfangs, gerade beim ersten Mal, hatten Marie und ich sehr viel Angst, dass sie sich selbst etwas antut. Aber sie braucht offenbar nur eins: Einen Moment Einsamkeit.

Vor zwei Wochen verschwand Helena mit einer Flasche Malzbier und ihrem Handbike, inzwischen hat sie übrigens ihr endgültiges, das ihr auch sehr viel besser gefällt, in Richtung Strand. Es war etwa 22.00 Uhr, als sie losfuhr. Und es war noch nicht richtig dunkel. Gegen 23.15 Uhr klingelte es zwei Mal an der Tür. Ich guckte auf mein Handy: Zwei uniformierte Personen standen davor. Ich dachte mir nur so: Nee, oder? Was hat das jetzt zu bedeuten? Ich lege ja viel Wert darauf, trotz Herzklopfen cool zu bleiben, aber ich wurde zittrig. Ich hatte wirklich Angst.

Marie hatte das auch gesehen. Vor meinem Zimmer wären wir mit unseren Rollstühlen beinahe zusammengekracht. Sie sagte: „Mach du mal auf, ich bleibe drinnen. Und bleib cool. Vielleicht ging nur das Licht am Handbike nicht.“ – „Und dann bringen die sie gleich rum?“ – „Bei Behinderten ist man immer sehr vorsichtig.“

Ich öffnete die Tür. „Guten Abend. Bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Wohnt hier Helena […]?“ – „Ja, wieso?“ – „Sind Sie die Mutter?“ – „Sie lebt hier als Pflegekind.“ – „Wissen Sie, wo sie ist?“ – „Mit ihrem Bike unterwegs zur Ostsee. Warum?“ – „Können wir mal reinkommen?“ – „Wo ist Helena?“ – „Können wir mal reinkommen?“

Eine Dame, geschätzt Mitte 20, ein Herr, geschätzt Anfang 50, kamen herein. Ich bat ihnen einen Sitzplatz an, aber beide wollten lieber stehen. Ich fragte: „Wo ist Helena? Was ist mit ihr?“ – „Sie sitzt bei meinen Kollegen im Auto. Und wir alle haben den Eindruck, es geht ihr nicht so gut. Können Sie uns dazu vielleicht etwas sagen?“ – „Was heißt das?“ – „Frau […], das Kind ist völlig aufgelöst. Es saß mutterseelenallein um kurz vor Mitternacht im Dunkeln im Sand, weinte, schluchzte und schimpfte bitterlich. Ein Landwirt hat uns informiert, nachdem er das Kind einige Zeit lang beobachtet hat.“ – „Ein Landwirt?“ – „Ja, es hatte jemand nach seinen Tieren geschaut.“ – „Das ist sehr nett von dem Menschen, aber aus meiner Sicht wäre das nicht nötig gewesen. Sie wäre von alleine in der nächsten Stunde zurückgekommen.“ – „Frau […], was ist hier vorgefallen, dass das Kind von Zuhause abhaut?“ – „Hier gar nichts. Die Gründe liegen woanders.“

Bevor ich mehr sagen konnte, wurde der ältere Kollege fast schon zornig: „Würden Sie uns bitte sagen, was hier vorgefallen ist?“ – „Ich fände es besser, wenn Helena dabei ist. Es ist sehr persönlich.“ – „Nee. Ich höre.“ – „Wie Sie wollen. Das Kind ist schwer traumatisiert durch die Pflegeeltern, bei denen es bisher gelebt hat. Gegen beide Eltern ermittelt seit etwa einem Jahr die Staatsanwaltschaft. Helena macht eine Psychotherapie in […], mit der sie ihre sehr belastende Vorgeschichte aufarbeitet. Heute hatte sie eine Stunde, und sie fährt regelmäßig für eine Stunde danach ans Meer, um ihre Gedanken zu ordnen.“ – Die beiden sahen sich an. Die jüngere sagte: „Oh Gott.“ – Er fragte: „Warum sitzt sie in einem Rollstuhl?“ – „Sie hat in früher Kindheit einen Sauerstoffmangel und in der Folge eine Hirnschädigung überlebt. Dadurch ist ihr Muskeltonus zu hoch und die Bewegungen sind unkoordiniert, so dass sie nicht gut und weit laufen oder Fahrrad fahren könnte.“

Die uniformierte Frau kämpfte plötzlich sichtbar mit den Tränen, schluckte mehrfach, drückte eine Hand gegen ihren Mund, stammelte „Tschuldigung“ und ging raus. Keine Ahnung, warum sie das plötzlich so mitnahm. Der Mann blieb alleine zurück und fragte in wesentlich ruhigerem Tonfall: „Haben Sie keine Angst, das Kind mit diesen großen Sorgen alleine an den Strand zu lassen?“ – „Das Kind ist nicht alleine und die Sorgen hat es schon mitgebracht. Das Kind bekommt hier alle Liebe, Wärme und Unterstützung, die es braucht, um diese Sorgen verarbeiten zu können. Wenn Menschen ein Kind seelisch traumatisiert haben, reicht es nicht, eine Woche lang einen Hustensaft zu nehmen und alles ist wieder gut. Da findet sich kein Patentrezept und da muss man manchmal auch Ideale, Gewohnheiten und Regeln über Bord werfen. Die Alternative wäre, dass ich Helena einsperre, wenn sie zwei Stunden draußen alleine sein möchte. Dann hätten Sie aber einen Grund, einzuschreiten.“ – „Hat sie das schonmal gemacht?“ – „Jede Woche. Und sie kommt nach zwei Stunden wieder.“ – „Haben Sie einmal die Namen der bisherigen Pflegeeltern für mich? Und dürfte ich einmal ihr Zimmer sehen?“

„Ich schlage vor, Sie lassen sie rein und sie zeigt Ihnen dann einmal selbst ihr Zimmer.“ – Ich blieb in der Tür stehen. Zwei silberblaue Kleinbusse standen vor der Tür. Es wurde geredet, dann fuhr ein Wagen ab. Kurz danach wurde Helena rausgelassen. Sie kam auf mich zu, verdrehte die Augen und sagte: „Ich hab nichts gemacht. Irgendeiner fand, dass ich zu laut geheult habe. Die wollten schon einen Rettungswagen rufen. Mach mir bloß keinen Vorwurf, ich bin so schon übelst angeätzt.“

Sie verschwand in ihrem Zimmer. Die beiden Uniformierten kamen mit dem Handbike zur Tür. Ich fragte: „Was hat sie Ihnen denn erzählt?“ – „Wir haben sie nach den Personalien gefragt und was vorgefallen ist, aber sie hat darauf nur mit ’nichts‘ geantwortet. Und, dass sie keine Hilfe braucht und alles in Ordnung ist. Aber damit können wir uns nicht zufrieden geben bei einem Kind, das um diese Zeit in dem Zustand irgendwo alleine sitzt. Das müssen Sie bitte auch verstehen. Wir erleben auch ganz andere Situationen, in denen wir keinen Fehler machen dürfen.“

Ja. Verstehe ich. Ich dachte mir: Es ist nur so bescheuert, weil das total unnötig und kontraproduktiv ist. Früher, als Helena wirklich in Not war, hätten wir uns alle gewünscht, dass mal jemand hinterfragt, ob es ihr gut geht. Der Beamte sagte: „Es kann sein, dass sich morgen das Jugendamt bei Ihnen meldet. Ich gebe Ihnen dazu meine Karte mit. Falls es Fragen gibt, sollen die bitte auf der Wache anrufen. Ich mache dazu einen Vermerk.“ – „Ihr Zimmer ist dorthinten.“ – „Das hat sich für uns erledigt. Wir werden den Einsatz nachbesprechen und schauen, ob wir künftig etwas anders machen. Jedenfalls wissen wir aber jetzt Bescheid, was es damit auf sich hat, wenn Helena nächste Woche wieder dort sitzt. Bitte richten Sie ihr morgen unsere Entschuldigung aus.“

Marie und ich sind zu Helena ins Zimmer. Sie guckte uns mit großen Augen an. Ich sagte: „Da hat sich offenbar jemand viel zu große Sorgen um dich gemacht.“ – „Und wer?“ – „Irgendein Landwirt angeblich.“ – „Unnötig“, sagte Helena. – Ich antwortete: „Aber das konnten die beiden nicht wissen. Sie wollten dich beschützen.“ – „Das ist schon krass, oder? Früher war allen alles egal.“ – „Das stimmt so nicht, Helena. Früher hast du nicht gezeigt, wie es dir geht. Du hast nicht gesagt, dass es dir schlecht geht, weil du Angst hattest, in eine Einrichtung zu kommen.“ – „Das stimmt. Das habe ich schon vergessen. Das ist so pervers. Die haben gedacht, dass ihr der Grund seid, warum ich so matschig in der Birne war.“ – „Sie möchten dich um Entschuldigung bitten.“ – „Die haben sich entschuldigt? Krass. Wisst ihr, was passiert wäre, wenn ich früher mit den Bu**en nach Hause gebracht worden wäre? [Der frühere Pflegevater] hat mir dafür Prügel angedroht. Er meinte aber wohl hauptsächlich, falls ich klauen würde oder sowas.“

„Hast du mal geklaut?“ – „Nee. Gelogen habe ich oft. Aber geklaut habe ich nie. Ich kann nicht garantieren, dass das immer so geblieben wäre, aber heute kriege ich Taschengeld und von daher … nee. Habt ihr gedacht, ich habe geklaut, als ihr das Auto gesehen habt?“ – „Nee, wir haben gedacht, du hättest dir irgendwas angetan.“ – „Ich hab doch gesagt, ich mach das nicht. Ich dachte, ihr glaubt mir.“ – „Das tun wir. Aber Angst habe ich trotzdem um dich.“ – „Jetzt hör mal auf damit. Ich will da einfach nur alleine sein. Zum Nachdenken. Ungestört. Okay?“

Ja, Große. Okay. Völlig okay.

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