Gleichbehandlung

Manchmal komme ich mir vor wie im falschen Film. In einem viel zu alten Film. Helena und ich sind in der großen Stadt, vor allem, um ihr neue Winterschuhe zu kaufen. „Ich habe das meiner Mitschülerin erzählt, sie bekommt neue Winterschuhe erst zu Weihnachten.“

Okay, letztes Jahr zu Weihnachten hatten wir 15 Grad über Null. Oder war es vorletztes Jahr? Ich finde es so albern, wichtige Anschaffungen auf das Weihnachtsfest zu verlegen. Nein, ich verstehe durchaus, wenn das Geld nicht ausreicht, um solche teuren Dinge „zwischendurch“ zu kaufen. Aber wie wäre es denn, das Weihnachtsfest einfach eine Spur besinnlicher zu feiern und den Kommerz an den Zeitpunkt seiner Notwendigkeit zu verschieben? Ich glaube, dass Kinder und junge Jugendliche sich über viel Kleinkram sehr viel mehr freuen als über ein paar teure Winterstiefel – wenn man sich traut, das Weihnachtsfest von kommerziellen Gedanken und Superlativen zu entkoppeln und aufhört, sein Gewissen damit zu beruhigen, dass ja etwas teures angeschafft wurde.

Helena und ich sind also in einem Fachgeschäft. Helena cruist durch die Regale, ich bin stehen geblieben und orientiere mich erstmal. In Hörweite sprechen zwei Verkäuferinnen miteinander: „Kannst du das behinderte Mädchen bedienen? Ich mag sie nicht anfassen.“

Wie bitte? Habe ich das wirklich gerade gehört? Jemand mag Helena die
Schuhe nicht anreichen und nicht mit dem Daumen auf den großen Zeh drücken, weil sie eine Cerebralparese hat und Spastikerin ist? Dieses Mädchen hat keine ansteckende Krankheit. Sie hat nichts Ekliges. Hatte am Morgen geduscht, Haare gewaschen, Zähne geputzt, frische Unterwäsche an, saubere Kleidung. Hat die Finger nicht im Mund oder in der Nase, sabbert nicht, spuckt nicht, kotzt nicht, hat nicht mit Exkrementen oder
verdorbenen Speisen gespielt. Ich habe keine Ahnung, was für eine Schuhfachverkäuferin noch so alles widerlich sein könnte. Helena ist eine absolut saubere junge Frau, die ganz viel Wert auf ihr Aussehen legt – und da lehnt es jemand ab, sie beim Schuhkauf zu beraten, weil sie eine Behinderung hat? Die gleiche Person, die vermutlich kurz vorher
einem Kleinkind mit Schnoddernase und Breifleck mit ganz viel Eideidei neue Babyschuhe verpasst hat?

Ich rolle zu Helena. Sie guckt mich beiläufig an und sagt: „Ich weiß nicht so recht.“ – Ich sage: „Wir kaufen hier nichts. Die Dame möchte behinderte Menschen nicht bedienen. Also raus.“ – Helena: „Hat sie gesagt? Alter, was läuft denn bei ihr nicht richtig?“ – Die Aufzugstür schließt sich hinter uns.

Ich habe ja ein gewisses Verständnis für Berührungsängste. Als ich zum ersten Mal jemandem die Haare waschen sollte, muss es für denjenigen
auch befremdlich gewesen sein. Ich bekam die Ansage: „Mädel, jetzt pack
doch mal richtig zu, du zerbrichst schon nichts!“ – Wäre sie also zögerlich oder ängstlich gewesen, hätte sich das bestimmt schnell aufgelöst. Aber eine ausgebildete Verkäuferin, die sich vor einem Mädchen ekelt, dessen Muskelspannung zu hoch ist, hat aus meiner Sicht den Job verfehlt.

Zum Glück gab es noch weitere Geschäfte. Im nächsten wurde Helena sofort fündig. Die Verkäuferin war geschätzt genauso alt wie die im Laden davor, und bevor ich irgendwas sagen konnte, kniete sie sich vor Helena und half ihr beim Schuhe anziehen und zubinden. Holte den zweiten
Schuh aus dem Lager dazu, brachte noch andere in ihrer Größe mit, die Helena auch alle nochmal einzeln ausprobierte, holte bei einem noch eine
andere Größe aus dem Lager, weil der etwas zu schmal ausfiel. Am Ende entschieden wir uns für den allerersten.

Als die Verkäuferin mit uns zur Kasse ging, sagte Helena zu mir: „Nächstes Mal kommen wir gleich hierher.“ – Die Verkäuferin drehte sich um und sagte: „Es freut mich, dass Sie zufrieden waren.“ – Helena griff das auf: „War ich eigentlich eine schwierige Kundin?“ – Die Verkäuferin antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Unsere Kunden zahlen mein Gehalt. Egal, ob sie viel oder wenig beraten werden möchten. Der Kunde, den ich viel und gut berate, kommt immer wieder. Ich habe meinen Beruf gelernt, damit ich auch auf die schwierigen Fragen eine Antwort weiß und
der Kunde zufrieden ist. Hier, nimmst du ein Bonbon? Und gib der Mutti auch eins.“

Gute Schule macht sich bemerkbar. Manchmal auch im Umsatz. Dass Helena nicht normal ist, erfährt sie von normalen Menschen immer wieder.
Keine Stunde später sitzen wir in einem Restaurant und Helena möchte ein Schnitzel mit Pommes. „Mir reicht das Kindermenü“, sagt sie und überliest in der Karte den entscheidenden Hinweis: „Kindermenü ist nur bis 10 Jahre“, sagt die Bedienung. Blickt auf Helenas Rollstuhl und fügt
hinzu: „Aber bei dir machen wir heute mal eine Ausnahme.“

Helena antwortet sofort: „Äh, nee, dann nehm ich das für Erwachsene.“
– Tja. Keine Sonderbehandlung bitte. Und fügt hinzu: „Jule, schneidest du mir das klein? Wenn ich das mache, fliegt das gewiss bis zum Nachbartisch.“ – So süß.

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