Herz und Spucke

Seit Montag habe ich eine neue Stelle. Ja, mein zweites Jahr in Weiterbildung beginnt. Nach einem Jahr Pädiatrie will ich nun ein Jahr lang in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Danach, also in einem Jahr, muss ich mich entscheiden, ob ich Kinderärztin oder Kinderpsychiaterin werden möchte. Vereinfacht ausgedrückt.

Die ganze Klinik ist sehr wohnlich eingerichtet. Ich bin in einem vollstationären Bereich, das heißt, dass die Menschen, die dort behandelt werden, auch dort schlafen. Akute Suchtproblematiken und akute
Psychosen sind ein Ausschluss-Kriterium für die Station, auf der ich zunächst eingesetzt werden soll. Der Kreis der Kolleginnen und Kollegen ist deutlich kleiner als in dem Haus davor, allerdings ist die Chefärztin sehr bekannt und sehr gefragt. Sie hat sich auch bereits sehr
loyal mir gegenüber verhalten.

Mein Job war es, bei einer jungen Patientin, die regelmäßig extreme Wutausbrüche bekommt und dabei dann auch sich selbst verletzt, zum Beispiel, indem sie ihren Kopf gegen die Wand schleudert, eine körperliche Untersuchung zur Aufnahme durchzuführen. Der Vater, selbst Arzt, war nicht dabei. Ich hatte echt Schiss, dass das Mädchen ausrastet, während ich mit ihr alleine bin, aber komischerweise war die Patientin total lieb und kooperativ. Ganz ruhig, ließ alles mit sich machen, fragte mich sogar, warum ich im Rollstuhl sitze und ob ich noch lerne oder schon ausgelernt hätte. Als ich ihr Herz abhörte, bat ich sie, einen Moment lang ruhig zu sein und sogar auch, einen Moment lang mal die Luft anzuhalten. Es gab überhaupt keine Probleme. Anders als der
Vater das vorher berichtet oder zumindest befürchtet hatte.

Ich weiß nicht, warum, aber es ist Fakt, dass ich offenbar ein sehr feines Gehör habe. Und oft Dinge höre, die Kolleginnen und Kollegen nicht hören. Jene Kolleginnen und Kollegen, die dafür zum Autofahren keine Brille brauchen. So war es auch bei diesem Mädchen: Immer, wenn ihr Herz sich anspannt und beginnt, das Blut in die Aorta zu pumpen, also in diesem Sekundenbruchteil, hörte ich an der Pulmonalklappe ein ganz kurzes, schrilles Fiepen. Die Pulmonalklappe ist diejenige Herzklappe, die verhindert, dass Blut aus der Lungenarterie zurück in die rechte Herzkammer fließt. Die Pulmonalklappe besteht aus drei halbmondförmigen Taschen, und wenn die nicht richtig schließen, führt das leicht zu einer dauerhaften Überlastung des Herzmuskels.

Ganz zu Anfang war ich mir nicht sicher, was ich da höre. Es war so, dass ich dachte, irgendwo außerhalb des Raums fiept ein Hundewelpe. Immer einmal kurz. Gerade so eben zu hören. Und auch nicht bei jedem Herzschlag. Und auch nicht von der Atmung abhängig. Ich nahm einen Ohrbügel meines Stethoskops aus meinem Ohr, um genau zu wissen, woher das Geräusch kam. Nein, kein Zweifel, das war kein fiepender Welpe, das war ein Herzgeräusch. Ich hörte auch noch auf die Lunge, dann fragte ich
das Mädchen, ob alles in Ordnung war. Sie nickte. Ich sagte: „Ich bin ja noch ganz neu hier, hast du was dagegen, wenn meine Kollegin auch einmal dazukommt und guckt, ob ich alles richtig gemacht habe?“ – Nö, alles war entspannt. Die Stationsärztin hörte nichts. Auch ein Ultraschall, leider nur ein ganz einfaches, war unauffällig. Das EKG zeigte auch keine Besonderheiten.

Zusammen mit meiner Kollegin suchten wir nach der Untersuchung den Vater auf. Er meinte gleich, dass mir die Erfahrung fehlen würde und seine Tochter gesund sei. Er wolle sie selbst auch nochmal abhören. Und während ich vorher meine Kollegin dazu holte, weil ich unerfahren war, schnaubte er gleich los: „Was soll hier sein?“ – Und kaum drehte er so auf, flippte die Tochter wieder aus. Eine Stunde lang war sie ruhig. Spricht Bände, finde ich. Die Chefärztin kam auch dazu und der Vater sagte schon im Reinkommen: „Die noch unerfahrene Kollegin in Fortbildung
will bei meiner Tochter ein Diastolikum auskultiert haben.“

Sehr freundlich. Als würde ich es mir ausdenken, um Aufmerksamkeit zu
bekommen. „In Fortbildung“ ist von einem Kollegen fast schon eine Beleidigung, da es eigentlich „in Weiterbildung“ heißt. Aber egal. Wie gesagt, meine Chefin ist sehr loyal mir gegenüber und faltete erstmal den blubbernden Kollegen zurecht: „Erstmal heißt es ‚Guten Tag’“, sagte sie. Er zog erstmal den Kopf ein. Das hat richtig gesessen und dafür hab
ich sie echt gefeiert in dem Moment. Sie hat zwar auch nichts gehört, aber ein Kinderkardiologe hat später festgestellt, dass ich recht hatte.
Allerdings kann es gut sein, dass das nur ein vorübergehendes, wachstumsbedingtes Phänomen ist. In drei Monaten soll das Mädchen sich noch einmal vorstellen.

Im Moment ist ohnehin der Wurm drin. Vor knapp drei Wochen hatte ich mal wieder eine Spuck-Attacke. Ich fahre nicht mehr oft mit öffentlichen
Verkehrsmitteln, aber manchmal bietet es sich einfach an, auch bei uns im ländlichen Ostseeraum. Der Bus fährt stündlich, entsprechend voll war
er. Kurz vor dem Aussteigen will eine junge Frau unbedingt an mir vorbei, versucht, mir dafür über den Schoß zu klettern und stützt sich dabei auf meine Schulter auf. Davon abgesehen, dass ich weder ihren Hintern vorm Gesicht haben noch angefasst werden möchte, besteht die ernsthafte Gefahr, dass wir alle mitsamt dem Rollstuhl umkippen. Entsprechend bitte ich sie, kurz zu warten, und als sie es besser weiß, auch energischer, die Finger wegzunehmen. Als sie zum vierten Mal ansetzt, schubse ich sie zurück. Kurz danach geht die Tür auf, sie spuckt mir ins Gesicht und rennt davon. Einige Leute stehen mit offenem Mund daneben. Weg ist sie. Ich zittere vor Wut.

Nein, nicht alle Menschen sind so. Im Gegenteil. Menschen wie sie sind die Ausnahme. Und ausnahmsweise auch mal sehr doof. Zwei Wochen später stand ich nämlich am letzten Freitag mit Otto an der Bushaltestelle, an der wir letztes Mal ausgestiegen sind. Im Auto warteten wir auf den Bus. Kurz bevor er ankam, setzte ich mich in den Rollstuhl. Otto stellte sich so hin, als wollte er an der hinteren Tür einsteigen. Ich stellte mich seitlich neben den Unterstand, so dass sie mich erst sehen würde, wenn sie ausstieg. Und was soll ich sagen? Sie stieg aus. Von einer Sekunde auf die nächste bekam ich Puls.

Bevor sie mich sah, rief ich Otto zu: „Lila Mütze!“ – Otto trat neben
sie: „So, einen Moment mal bitte! Sie kennen die Rollstuhlfahrerin, die
dort steht?“ – Die Frau wollte weglaufen, Otto hielt sie allerdings am Arm fest. „Sie sind vorläufig festgenommen. Und wenn Sie hier groß rumtanzen, liegen Sie gleich im nassen Laub und haben eine Acht auf dem Rücken. Klar?“ – Ob es am Überraschungseffekt lag oder ob Otto einen festen Handgriff hatte, weiß ich nicht. Sie blieb jedenfalls stehen. „Ich möchte, dass Sie sich ausweisen, dann können Sie sofort weiter. Wenn Sie sich nicht ausweisen, warten wir hier gemeinsam auf die Polizei. Können Sie sich überlegen.“

Sie überlegte einen Moment. Dann wollte sie an ihre Handtasche. Otto griff an ihr Handgelenk. „Ist der Ausweis in der Tasche? Darf ich reinschauen? Nicht, dass Sie hier noch ein Messer auspacken.“ – „Da ist kein Messer drin.“ – „Ja, das sagen immer Alle.“ – Sie zuckte mit den Schultern und gab Otto die Tasche. Otto fand die Geldbörse, fand den Ausweis, ich notierte mir die Daten. Als er ihr den Ausweis zurückgab, sagte er: „Sie bekommen dann demnächst offizielle Post. Schönen Tag noch.“

Jo. Der Junge hat seinen Job gelernt. Ich bin ihm so dankbar. Meine Anwältin meinte, ein Bruttomonatsgehalt sei wohl fällig. Und um die 500 Euro Schmerzensgeld an mich wohl auch. Bleibt zu hoffen, dass das verfolgt und nicht etwa als Bagatelle eingestellt wird.

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