Großbrand und Fallgrube

Dass der Freitag anstrengend werden würde, war mir schon am Donnerstagabend klar. Dass er aber so chaotisch werden würde, war absolut nicht zu erwarten. Es war mal wieder ein Tag, von deren Sorte man so schnell keinen zweiten braucht – bis auf sein Happy End.

Unter anderem Simone, Cathleen und ich waren am Freitagabend zum Geburtstag von Sarah eingeladen. Sie wollte reinfeiern. Schlafplätze gab es keine mehr, wenigstens ein Bier wollte ich mal trinken, insofern kam
auch das Autofahren nicht mehr in Frage. Die S-Bahn fuhr nur noch bis kurz vor 1 Uhr nachts auf dem Streckenabschnitt (sonst fahren ja die Bahnen die ganze Nacht, aber eben auf diesem Streckenabschnitt nicht) – also mal wieder ein klarer Fall für einen großen Van, in dem man schlafen kann.

Es wäre kein Problem, mit dem Auto zur Schule zu fahren und anschließend damit zum Training und danach zu der Feier. Nur würde ich an dem Freitag bis 17.00 Uhr Schule haben und um 17.30 Uhr bereits in der Holstenstraße im Wasser sein wollen, was mit dem Auto unmöglich ist, da ich entweder über die A7 in Richtung Elbtunnel (bis 2012 ist noch eine Röhre gesperrt und daher um die Zeit dort regelmäßig zwischen 10 und 30 Kilometer Stau) oder über die B447 stadteinwärts fahren muss. Und die B447 ist um die Zeit ebenfalls dicht, weil die ganzen Leute, die glauben, dass sie durch die Stadt den Stau auf der A7 umfahren können, hier rumstehen. Insofern braucht man im abendlichen Berufsverkehr für eine Strecke, für die man nachts 13 Minuten braucht, zwischen 90 und 150 Minuten. Kein Scherz und nicht übertrieben.

Zweites Problem: Ich komme mit dem Van nicht in die Tiefgarage unter dem Schwimmbad (zu niedrig) und weitere rolligerechte Parkplätze sind dort weit und breit nicht. Daher blieb mir nur eine Möglichkeit: Das Auto morgens in die Nähe der Party stellen, mit Bus und Bahn zur Schule, mit Bus und Bahn zum Schwimmen, mit Bus und Bahn zur Party und abends im Auto pennen. Da ich erst um 10.40 Uhr in der Schule sein musste, war das auch kein Problem. Viel mehr wäre interessant gewesen, ob ich um die Zeit vor der Schule noch einen Parkplatz bekommen würde, denn die inzwischen sechs Behindi-Plätze sind regelmäßig von Leuten zugeparkt, die da nichts zu suchen haben.

Egal. Das ist alles nicht so wild, als dass man darüber einen Blog-Eintrag erstellen müsste. Dass im Festland mal wieder die einzige Behinderten-Toilette außer Betrieb war und wir alle brav unter der Dusche gestrullert oder kathetert haben, interessiert vermutlich auch nur die Fetischisten. Immerhin soll das gut gegen Fußpilz sein.

Nach dem Schwimmen standen Cathleen, Simone und ich im Bahnhof Holstenstraße. Wir hatten uns extra beeilt. Die Party sollte um 20 Uhr losgehen. Da wir erst um 19.00 Uhr aus dem Wasser kamen, war es bereits 19.40 Uhr. Auf dem Bahnsteig waren Hunderte Leute, und uns wurde schnell klar: Irgendwas stimmt hier nicht. Auf der Anzeigetafel stand nur: Bitte Ansage beachten! Super. „Wegen eines Polizei-Einsatzes im Hauptbahnhof ist der Zugverkehr zur Zeit unterbrochen.“ Weitere Informationen gab es nicht.

Der Bahnhof Holstenstraße liegt oberhalb der Straße. Unten brausten jede Menge Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht und Sirene durch. Irgendetwas roch angebrannt. Als würde ein Mülleimer brennen. Da wir nicht in einer Tunnelstation waren, kratzte uns das nicht sonderlich, die Dinger brennen ja öfter mal. Es war auch nicht eindeutig zu erkennen, woher dieser Gestank kam. Verstärkte Aufmerksamkeit bekam kurz danach auch die
Anzeigetafel, die ankündigte, dass der nächste Zug nach Altona in 8 Minuten kommen sollte. Vielleicht kämen wir ja doch noch einigermaßen pünktlich.

Irrtum! Plötzlich kam ein kräftiger Windzug und mit ihm ein beißender Qualm über den Bahnstein geweht. Man konnte die Hand nicht mehr vor Augen sehen und musste sich die Jacke vor das Gesicht halten, um überhaupt noch Luft zu kriegen. Von einer Sekunde auf die nächste war der Bahnsteig völlig verqualmt. Die Leute verließen panikartig den Bahnhof. Nach ein paar Sekunden zog der Rauch weiter. Man bekam wieder besser Luft. Simone hatte Schiss: „Ich will hier weg.“ Tja, nur wie?! Aufzug im Brandfall nicht benutzen. Er könnte stehen bleiben oder in ein Stockwerk fahren, das noch verqualmter ist. Dort schließt sich die Tür nicht mehr wegen des Qualms zwischen der Lichtschranke und man erstickt. Oder so ähnlich. Gilt das auch für Aufzüge im Freien? Die Frage erübrigte sich, denn der Aufzug funktionierte nicht.

Die zweite beißende Qualmwolke wehte herüber. Immer mehr Tatütata kam herangefahren. Dann eine Lautsprecherdurchsage: „Wegen eines Feuerwehr-Einsatzes halten im Bahnhof Holstenstraße derzeit keine Züge. Reisende werden gebeten, den Bahnsteig aus Sicherheitsgründen zu verlassen. Benutzen Sie bitte keine Aufzüge.“ Der erste Zug nach dem Polizei-Einsatz am Hauptbahnhof war noch nicht mal da. Super. Und nun?

Inzwischen waren wir fast die einzigen auf dem Bahnsteig. Cathleen drückte den Notrufknopf an der Info-Säule. Es tutete und tutete und tutete. Und tutete. Und tutete. Und blinkte. Und tutete. Dann hörte das Blinken auf und es tutete nicht mehr. Cathleen drückte nochmal. Gleiches Spiel. Es tutete 30 Sekunden, niemand ging ran, Stille. Abermals wehte beißender Qualm über den Bahnsteig. Es war nicht zu erkennen, woher das kam. Man bekam keine Luft mehr. Wir hielten uns die Jacken vor das Gesicht. Wir mussten hier weg. Fest stand, dass der Qualm von überall herkam. War es schlauer, auf dem Bahnsteig zu bleiben oder sollten wir es wagen, uns mit den Rollstühlen rückwärts und mit beiden Händen am Geländer festgekrallt stufenweise die Treppen runterzulassen? Das dauert bei 70 Stufen seine Zeit, macht tierisch Lärm, ist anstrengend und geht unheimlich aufs Material. Abermals kam eine beißende Qualmwolke über den Bahnsteig geweht. Nein, wir mussten hier weg.

Es war absolut nicht zu erkennen, woher dieser Qualm kam. Ob von unten oder aus der Straße. Was, wenn wir auf der Treppe keine Luft mehr bekommen würden? Wenn wir das Geländer loslassen, fallen wir die 70 Stufen runter. Cathleen griff zum Handy. Wählte 110. Kam in die Warteschleife. Hallo?! Notruf? Warteschleife?! Wo sind wir hier eigentlich? Nach 30 Sekunden ging jemand dran. „Wir sind mit drei Rollstuhlfahrern auf dem Bahnsteig in der Holstenstraße, kommen hier nicht weg. Aufzug geht nicht, Treppen kommen wir nicht runter, hier ist beißender Qualm, wir kriegen kaum Luft.“ Cathleen bekam als Antwort: „Bleiben Sie ruhig. Halten Sie sich etwas vor das Gesicht. Hilfe kommt sofort.“ Was für eine Scheiße!

Sie kam sofort. Es dauerte keine Minute, da kam eine Polizeistreife im Laufschritt die Treppe hoch. Ein Mann, eine Frau. Abermals kam eine beißende Qualmwolke über den Bahnsteig gezogen. Der Mann brüllte mich an: „Kann ich dich über die Schulter werfen und runtertragen oder mach ich da was kaputt?“ – „Nein, nein, geht nichts kaputt.“ Der Typ schnappte mich am Hosenbund, hob mich aus dem Stuhl, warf mich über seine Schulter, ich hing mit dem Kopf abwärts an seinem Rücken, er torkelte mit mir die Treppe runter. Nur nicht stürzen jetzt. Ich hörte seine Kollegin in seinem Funkgerät. „Benötigen dringend weitere Kräfte für den Bahnhof Holstenstraße. Der Bereich ist völlig verqualmt. Es halten sich noch mehrere Personen dort auf. Wir tragen gerade einige Mädchen im Rollstuhl dort weg.“

Der Typ joggte mit mir auf der Schulter in Richtung Ausgang Neue Flora, setzte mich auf die Erde und lehnte mich gegen eine Mauer. „Kannst du einen Moment so sitzen bleiben, ich hole erstmal deine Freundin.“ Seine Kollegin kam mit Simone auf dem Arm angelaufen. Setzte sie unsanft neben mich und war wohl gerade über das Funkgerät angesprochen worden. Sie laberte irgendwas da rein und lief wieder weg. Einen Moment später kam der Typ wieder mit Cathleen auf der Schulter. „Die Rollstühle kommen gleich nach, wir müssen erst einmal den Bahnsteig
absuchen, ob da noch weitere Personen sind.“ Weitere Polizisten kamen und sperrten die Eingänge mit rot-weißem Flatterband. Eine Frau im Sanitäter-Outfit kam zu uns, ob wir Atembeschwerden hätten oder Kratzen im Hals. Nein, hatten wir alles nicht. Dann bekamen wir endlich unsere Rollstühle wieder. Die Polizisten wollte unsere Personalien haben. Nur zur Sicherheit, falls noch etwas sein sollte. In der Zwischenzeit kamen immer mehr Feuerwehrautos und immer mehr Polizeiwagen. Ein Typ fing an, uns zu fotografieren. Ich konnte gerade noch rechtzeitig meinen Arm vor das Gesicht halten. Das fehlte noch!

Bevor wir dann endlich dort weg durften, habe ich noch ein Foto geschossen. Noch Fragen?

Da keine Züge mehr fuhren und auch die Straßen gesperrt waren, mussten wir ein Stück zurück zur Sternbrücke fahren und dort in den Bus nach Altona. Als wir dann endlich im Zug in Richtung Sarah saßen, war es bereits kurz nach 9. Und es dauerte noch bis kurz vor 10, bis wir endlich dort ankamen, wo wir aussteigen wollten. Zum Glück war der Bahnhof rollstuhlgerecht und nicht von Aufzügen abhängig, da hier lange Rampen gebaut worden waren. Das allerdings schon vor schätzungsweise 20 Jahren. In einer Kehre geriet mein Vorderrad in ein sieben Zentimeter tiefes Loch und ich fiel mit dem Kopf voraus aus dem Stuhl, der natürlich bei so einem Stoß schlagartig auf 0 abbremste. Zum Glück blieb ich mit den Beinen nirgendwo hängen und ich schaffte es auch, mich so abzufangen, dass ich nicht mit dem Gesicht über irgendwelche Steine rutschte. Und der Mutterboden an den Seiten war weich. Ich war gerade einigermaßen sicher gelandet, als ich merkte, dass Cathleen hinterhergeflogen kam. Simone war die Dritte in der Reihe, sie konnte gerade so eben noch bremsen.

Uns ist nichts passiert. Außer dreckige Klamotten, dreckige Hände und schmutzige Gesichter. Die Klamotten stanken ohnehin schon nach Großbrand, insofern mussten die sowieso in die Wäsche. Und im Auto lagen
Wechselsachen für alle Leute. Eigentlich erst für nach der Party, aber das war jetzt egal. Sarah ließ uns alle drei erstmal duschen und frische Sachen anziehen. Und dann hatten wir eine absolut tolle Party. Haben ganz viel gequatscht, gespielt, gegessen, getrunken, gefeiert, gesungen (SingStar ist immernoch in…), gelacht und irgendwann dann auch zu Dritt im Auto geschlafen.

Als wir am nächsten Tag um kurz nach 11 endlich wieder wach waren, konnte ich mir nicht verkneifen, auch noch ein Foto von unserer in der Dunkelheit kaum sichtbaren Fallgrube zu machen. Um der S-Bahn Hamburg mal einen netten Hinweis zu geben.

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