Eine aufregende Woche

Mir geht es gut. Nein, wirklich. Ich bin selbst erstaunt. Ob es von den ersten Sonnenstrahlen kommt, die Glückshormone freisetzen? Oder vom Sex, der gleiches tut? Oder ob es an den vielen Neuigkeiten und Perspektiven liegt, die meine letzte Woche prall gefüllt haben?

Ich weiß gar nicht, wovon ich zuerst und wovon ich zuletzt schreiben soll. Ich habe auch keine Ahnung, ob sich das jemand antun will, aber ich kündige schon jetzt an: Trotz aller Bemühungen wird es eine lange Kurzfassung. Es war eine Woche, die so bewegt war, dass ich nicht dazu gekommen bin, Tagebuch (Blog) zu schreiben.

Am letzten Wochenende fand endlich mal wieder ein Straßentraining statt. Leider bei keinem tollen Wetter, es fing zwischenzeitlich zu nieseln an. Marie hat zum ersten Mal auf der Straße mittrainiert und es hat ihr sehr gut gefallen. Sie passt prima in unsere Gruppe.

Am letzten Wochenende war auch Pauline dabei. Pauline ist knapp 16 Jahre alt und wohnt in der Straße, in der unser nächtliches Training beginnt und endet. Unser Straßentraining findet ja seit einiger Zeit auf den Elbdeichen statt, im Rahmen einer Sondernutzungserlaubnis teilen wir uns nachts etwa zehn Kilometer Deichstraße mit etlichen Rennradlern. Für den Durchgangsverkehr ist die Straße in dieser Zeit gesperrt.

Pauline saß auch schon die letzten Wochenenden auf einem Verteilerkasten am Straßenrand gegenüber unserer Trainingsbasis und guckte. Sagte kein Wort, sondern beobachtete nur. Über Stunden. Kurz nachdem wir beginnen, kommt sie aus dem Haus, setzt sich auf den Stromkasten (oder Telefonkasten, keine Ahnung, was da verteilt wird), guckt uns ein paar Stunden zu und verschwindet wieder. Keine Eltern in Sicht, es ist arschkalt (wenn man nur da sitzt), sie sagt nichts, sie macht nichts, sie guckt nur.

Vor einer Woche haben wir sie angesprochen. Ergebnis: Sie bewundert uns. Sie bewundert mich. Sie sei verliebt in mich. Sie schwärme für mich. Sie möchte so sein wie ich. Auf meine ziemlich perplexe Frage (immerhin kommt es nicht alle Tage vor, dass jemand mir so etwas sagt, geschweige denn sich dazu überwindet, so etwas zu sagen), was sie denn so toll an mir finde, antwortete sie: Einfach alles. Sie wünsche sich, mit mir tauschen zu können. Aber das ginge ja nicht. Sie träume jeden Abend vor dem Einschlafen davon, so zu sein wie ich.

Ich fragte sie, ob sie sich vorstellen könnte, wie ein Leben mit einer Querschnittlähmung ist. Nein, sagte sie, das könne sie nicht, aber sie bewundere mich und möchte gerne so sein wie ich. Sie fing an, mich Dinge aus meinem Leben zu fragen. Ob ich zu Hause wohne, ob ich noch zur Schule gehe – und ob ich viele Freunde hätte, die im Rollstuhl sitzen. Sie würde auch gerne Rollstuhlfahren lernen.

Ich hielt sie für ziemlich „Psycho“ und fragte sie, was sie am Rollstuhlfahren so erstrebenswert fände. Immerhin kenne ich viele Rollifahrer, die gerne laufen können würden. Sie antwortete, dass ich sie falsch verstanden hätte: Sie sei nicht vom Rollifahren fasziniert, sondern von mir, wie ich Rollstuhl fahre. Dass ich den so gut beherrsche
und dass es so wirke, als hätte ich ihn akzeptiert. Das sei bei ihr nicht so – ihr Rollstuhl sei Scheiße und fahren könne sie damit auch nicht. Er sei ganz billig und eigentlich für alte Omas.

Das Gespräch wurde immer verrückter. Sie war eindeutig zu Fuß da und ihr Gangbild deutete nicht im geringsten darauf hin, dass sie irgendeine Einschränkung haben könnte. Im Gegenteil, sie lief, sprang an diesem Stromkasten hoch – völlig unauffällig. Sie sagte, sie habe einen Rollstuhl, weil sie an einigen Tagen nicht laufen könne. Teilweise nicht mal zehn Meter. Lange Strecken sowieso nicht. Die Ärzte finden keinen Grund, die eigenen Eltern halten sie für eine Spinnerin und sie stehe mit ihrem Problem völlig alleine dar.

Woher sie den Rollstuhl denn hätte, wollte ich wissen. Der normale Weg wäre eine Verordnung vom Arzt gewesen – und dann eine Versorgung über ein Sanitätshaus zu Lasten der Krankenkasse. Sie habe ihn selbst gekauft, deswegen sei er auch nur einfach. Und die Eltern wüssten auch nichts von seiner Existenz. Der Kinderarzt habe ihr keinen verschreiben wollen, der meinte, dann würde sie nur noch dadrin sitzen. Auf die Frage, wo der Rolli denn jetzt stehe, meinte sie, dass er bei einem Nachbarn in einer Scheune untergestellt sei. Fragt sich, wie sie dorthin
kommt, wenn sie an einigen Tagen nur zehn Meter laufen kann. Wir haben uns verabredet, dass sie den Stuhl nächstes Mal mitbringt und wir mal schauen, ob man den noch besser einstellen kann… Mal sehen, wie die Märchenstunde weitergeht.

A propos „Psycho“: Heute (ich weiß, Chronologie geht anders) saß ich in der S-Bahn, als an der Station „Reeperbahn“ ein Typ einstieg, mit Glatze, Ohrringen, Perlenkette, Stöckelschuhen, Rock und durch die Bluse
schimmerte ein BH. Knie frei, stark geschminkt und gepudert – solche Leute trifft man in dem Bereich öfter. Hin und wieder sind sie ein Hingucker, manchmal, weil sie tatsächlich hübsch aussehen, manchmal, weil sie tatsächlich schrecklich aussehen. Der heutige Frau war unspektakulär, setzte sich auf einen Platz und las ein Reclamheft. Mir gegenüber knutschten zwei Typen, Mitte 40, intensivst, eine Sitzgruppe weiter redete jemand laut mit sich selbst und noch ein Stück weiter leckte jemand die Fensterscheibe ab. Als dann, eine Station später, an der Königstraße, noch drei Leute reinkamen, einer mit Gitarre, zwei farbige Frauen in Baströcken dazu, zusammen rockten sie lautstark die Bahn und tanzten, fühlte sich ein Typ genötigt, laut loszubrüllen: „Nur Asoziale hier! Nur Beknackte, Psychotiker und jede Menge Schwuchteln.“ – „Und Behinderte“, fügte ich hinzu und hob demonstrativ meinen Zeigefinger hoch. Der Typ konnte es nicht hören, die beiden homosexuellen Männer grinsten, eine ältere Frau schaute mich vorwurfsvoll an. Großstadt.

Vor knapp zwei Wochen schrieb ich über einen Mann, der keine Erlaubnis bekam, eine ausreichend große Wohnung anzumieten. Das Thema hat sich inzwischen erledigt: Nachdem der Leiter jener Abteilung, die dem Mann diese Berechtigung verwehrt hatte, darüber zu entscheiden hatte, ob die Verfahrensakte zur Einsichtnahme zum Anwalt geschickt werden kann, stellte die Sachbearbeiterin dem Mann den richtigen Berechtigungsschein aus. Damit habe sich die Sache ja nun erledigt…

A propos „erledigen“: Bei meinem „Schulproblem“ hat sich nach wie vor nichts erledigt. Zwei der drei Unruhestifter sind nicht mehr suspendiert, eine endgültige Entscheidung, wie es weiter geht, gibt es trotzdem nicht. Zumindest nicht, was die Konsequenzen für die Plagegeister angeht. Für mich bedeutet das: Es geht (fast) so weiter wie
vor der Suspendierung, denn dieser halbherzige Versuch, die Streithähne in die Schranken zu weisen, hat sie offenbar nur in der Ansicht bestärkt, man könne ihnen nicht ans Leder. Die Direktorin ist mir ein paar Mal über den Weg gelaufen, sie grüßt nicht mehr, es scheint mir, als wenn sie mich mutwillig übersieht, vielleicht verdrängt sie mich auch einfach nur aus ihren Gedanken, vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein und sie hat mich einfach nur ein Dutzend Mal nicht gesehen.

Es soll ja bei Beamten die inoffizielle Möglichkeit des „Weglobens“ geben, meistens in aufwärtige Richtung. Damit ist gemeint, dass man einen Beamten, der auf seiner Stelle mehr Scheiße baut als sinnvolles zu
leisten, in eine andere (höhere) Position befördert, wo er weniger Unheil anrichten kann – Beamten kann man schließlich schlecht kündigen. Nicht, dass ich nun Gerüchte in die Welt setzen will, dass man meine Direktorin wegloben will – bewahre! Sondern ich komme mir im Moment so vor, als wolle man mich „wegloben“. Ich weiß natürlich, dass das nicht so ist, sondern kann noch gar nicht fassen, was da gerade passiert, welche Mühe sich einige Leute mit mir geben und welche vermutlich einzigartige Chance man mir gerade eröffnet. Ich suche nach Erklärungen – die absurdeste, die des Weglobens, ist noch nicht absurd genug.

Am letzten Dienstag rief mich meine Hausärztin, die Mutter von Marie, nachmittags an. Sie, meine Hausärztin, habe auf Erzählungen von Marie über meinen Schulstress in meinem Blog geblättert. Sie konnte nicht glauben, was Marie ihr erzählt hat. Sie sagte, das alles sei ja unerträglich. Sie wusste zwar aus meinen knappen Erzählungen, dass da nicht alles rund laufe, aber so schlimm habe sie es sich nicht vorgestellt. Meine Texte (in denen es ja auch hin und wieder mal um meine Schulnoten ging) haben ihr aber insgesamt sehr gut gefallen und sie erlebe mich ja auch schon einige Zeit, insofern würde sie mir gerne helfen – ob ich damit einverstanden sei.

Sicherlich bin ich damit einverstanden, nur was kann sie schon tun? Schließlich haben sich ja schon einige Leute vergeblich daran versucht. Sie fragte mich, was ich nach meinem Abi tun möchte. „Studieren“, antwortete ich. – „Was denn?“ – „Genau weiß ich es noch nicht, aber vermutlich Psychologie. Oder irgendwas anderes Soziales, bei dem man mit Menschen zu tun hat.“ – „Medizin?“ – „Dafür ist mein NC zu schlecht.“ – „Scheitert es nur am NC? Oder anders gefragt: Was wäre, wenn im nächsten Jahr der NC so läge, dass es möglich wäre?“

„Ich habe mir darüber noch nie Gedanken gemacht, weil ich keinen NC von 1.1 hinbekomme und sich diese Tür mir sowieso nie öffnen wird. Außerdem weiß ich nicht, ob ich das packen würde, da ich ja nur begrenzt
belastbar bin und das Studium ja sehr anspruchsvoll ist. Und ob ich das alles verstehe, gerade in Chemie, weiß ich auch nicht.“ – „Naja, die Belastbarkeit ließe sich ja durch eine längere Studienzeit ausgleichen. Und was den Intellekt angeht, hätte ich überhaupt keine Zweifel. Die entscheidende Frage wäre aus meiner Sicht, ob das inhaltlich das richtige wäre.“

„Und ob ich das letzte Jahr an meiner Schule überstehe“, sagte ich. Maries Mutter ließ nicht locker: „Sie denken mir zu praktisch. Hätten Sie theoretisch Interesse, wenn Ihnen morgen jemand einen Studienplatz anbieten würde?“ – „Ich glaube schon. Aber warum ist das so wichtig?“ – „Marie fängt nächsten Winter an, Medizin in Hamburg zu studieren. Sie hat ein entsprechendes Abi geschafft. Und nun sucht sie noch jemanden, der sie begleiten möchte. Ich habe da spontan an Sie gedacht. Ich glaube, das wäre etwas für Sie.“

„Ich bin doch erst 2012 mit dem Abi fertig. Frühestens. Und ich habe keinen entsprechenden NC.“, antwortete ich. Was sollte das?! Schnallte sie das nicht oder wollte sie mich provozieren? Ich wurde langsam sauer,
weil ich mich nicht verstanden und nicht ernst genommen fühlte – und das kann ich nicht leiden. Sie sagte: „Ich weiß, es klingt bescheuert, aber vielleicht schlafen Sie einmal drüber und sagen mir morgen früh, ob
das was für Sie wäre, ob Sie sich grundsätzlich vorstellen könnten, Medizin zu studieren, wenn Sie sich über NC und Abi und arschige Mitschüler keine Gedanken machen müssten. Ob das Ihr Studiengang sein könnte. Überlegen Sie sich das ernsthaft und rufen mich bitte bis morgen Mittag an. Ich meine das wirklich ernst!“

„Und dann?“ – „Dann rufen Sie mich wieder an. Bitte nicht vergessen! Tschüss!“ – Zuerst war ich sauer, spielte sogar schon mit dem Gedanken, Marie anzurufen und sie zu fragen, was das sollte, entschied mich dann aber zum Glück dagegen und redete mich allen möglichen Leuten. Alle möglichen Leute hatten alle möglichen Bedenken. Meine körperliche Behinderung, wenn ich da mal jemanden hochheben müsste, oder reanimieren müsste, das ginge doch gar nicht. Ich würde schon im Pflegepraktikum scheitern, das dem Studium vorausgeht. Andererseits gibt es einige wenige Ärzte im Rollstuhl – die müssen es ja irgendwie auch geschafft haben.

Als ich sie am Mittwoch anrief und ihr erzählte, dass ich mir das vorstellen könnte, mehr aus der Neugier heraus, was wohl passieren würde, als aus der Überzeugung, dass da wirklich etwas passieren könnte, antwortete sie, dass ich am Abend einen Termin hätte mit Marie – den sollte ich unbedingt wahrnehmen und alles andere absagen. Es sei meine Chance, ohne NC einen Studienplatz für Medizin zu bekommen. Wenn ich möchte.

Bis dahin habe ich das ganze für albern gehalten, aber als mir in dem Moment klar wurde, dass das wirklich ernst gemeint war (ohne zu wissen, wie das klappen sollte), zweifelte ich doch, ob ich mich richtig entschieden hatte. Mehr aus dieser Eigendymamik heraus fuhr ich abends mit Marie in den Hamburger Westen in ein Krankenhaus und sollte mich bei einer Sekretärin melden. Es dauerte endlos, bis wir die richtige Zimmertür gefunden hatten. Dann standen wir in einem Raum mit einer Dachschräge, ein ziemlich großer, dünner Mann mit blondem, ungeordneten Haar, sehr dezenter Brille, Dreitagebart, großen Händen, schätzungsweise Anfang 40 (später erfuhren wir dann, dass er über 60 war) stand an einem offenen Dachfenster und rauchte. Das Zimmer war grell erleuchtet, überall standen und lagen Bücher herum, prall gefüllte Regale standen an jeder Wand.

Als wir reinrollten, drückte er seine Zigarette in einem Aschenbecher aus und schloss das Fenster. Bevor er uns die Hand gab, ging er zu seinem Schreibtisch, wackelte mit der Maus, um den Bildschirmschoner auszuschalten, und drehte seinen Monitor. „Aus dem Leben einer Stinkesocke“ – mein Blog war auf dem Bildschirm zu sehen.

„Hätte ich das gewusst, hätte ich einige Beiträge ausgeblendet“, sagte ich. Er antwortete: „Gut, dass Sie das nicht gewusst haben. Schauen Sie mal hier. Daran forsche ich gerade. Die Genetik der einzelnen Bakterien im Darm. Sie sind bei jedem Menschen verschieden. Außer bei Zwillingen. Die haben dieselben. Auch, wenn sie seit 50 Jahren
nicht mehr zusammen wohnen, sich völlig unterschiedlich ernähren, der eine nimmt ständig Antibiotika, der andere schwört auf Naturheilkunde – die haben trotzdem die gleichen Darmbakterien. Der eine Zwilling hat ein
Reizdarmsyndrom, der andere nicht. Woran liegt es?“

„Am Antibiotikum?“ – Der Mann lachte. „Nein. Das kann auch denjenigen Zwilling treffen, der kein Antibiotikum genommen hat.“ – „Keine Ahnung. An der Psyche? An der Ernährung?“ – „Die erste Antwort war richtig.“ – „Die Psyche.“ – „Nein, die erste. ‚Psyche‘ war die zweite.“ – „Keine Ahnung?“ – „Genau. Keine Ahnung. Wir wissen es nicht. Fragen Sie einen Mediziner nach der Ursache des Reizdarmsyndroms und sie bekommen allenfalls eine Bankrott-Erklärung. Die Darmflora ist so gut wie nicht erforscht. Wir wissen, dass in ihm zwischen drei und zwanzig Pfund Bakterien leben, 10% von ihnen haben schon einen Namen. Ende.“

„Warum hat das noch nie jemand erforscht?“, fragte ich. Er antwortete: „Was denken Sie?“ – „Hm, es scheitert schon daran, an alle Bakterien ranzukommen?“ – „Richtig, warum?“ – „Der Darm ist zu lang, um mit irgendwelchen Instrumenten…“ – „Falsch. Im Zweifel nimmt man bei einer Operation oder Sektion irgendwelche Proben. Das ist nicht der Grund.“ – „Hm, vielleicht herrscht da drin so eine einzigartiges Milieu, dass sie tot sind, bevor sie unter dem Mikroskop liegen?“ – „Genau richtig. Erst mit Hilfe der DNA-Untersuchung, die erst seit einigen Jahren möglich ist, hat man festgestellt, was da so alles unterschiedliches lebt. Bei der DNA-Untersuchung ist es egal, ob das Bakterium tot ist oder lebendig. Ein Mediziner in den USA hat sich die Mühe gemacht und die DNA aller Bakterien im Darm eines Menschen entschlüsselt. Und dabei mal eben schnell einige Tausend neue Bakterien gefunden. In einem Menschen. Und im zweiten nochmal. Da ist unheimliches Forschungspotential.“

Er nannte die Chaoten auf meiner Schule „Hallodris“ und wollte von mir hören, warum einige Querschnittgelähmte einen sehr hohen Blasendruck haben und andere nicht. Ich erklärte ihm das. Steht ja auch in meinem Blog. Er wollte dann wissen, wieso Querschnittgelähmte keine Reflexe hätten. Erklärte ich ihm auch. Dann fragte er: „Haben Sie eine Querschnittlähmung?“ – Ich nickte. – „Komplett?“ – Ich nickte nochmal. – „Wetten, dass ich bei Ihnen doch einen Reflex auslöse?“

„Wenn Sie so fragen, gibt es bestimmt einen“, antwortete ich, „den man auslösen kann. Mit List und Tücke.“ – „Ich wette, Sie können mit ihrem großen Zeh wackeln“, sagte er. Ach den. Kannte ich schon. „Babinski lässt grüßen?“ – „Sie haben ein großes medizinisches Interesse, oder?“ – „Es betrifft mich halt. Wenn Sie mich jetzt was über
Herzinfarkte fragen würden, müsste ich passen.“ – „Warum wollen Sie Medizin studieren? Weil ein Studium besser wäre als sich weiter zu den Hallodris in die Schule zu setzen? Also die Frage wäre ja, ob nicht derzeit alles besser wäre als diese Hallodris.“

„Ich weiß es nicht. Es würde mich interessieren und ich könnte es mir vorstellen. Ich habe keine fernen Ziele, die ich erreichen will. Ich will keine Darmbakterien entdecken und auch nicht die Welt retten. Vielleicht tue ich das eines Tages mal, nichts ist unmöglich, aber ferne Ziele habe ich derzeit nicht. Als nahes Ziel möchte ich mein Abi schaffen, um studieren zu können und dazu so schnell wie möglich raus aus dieser Chaos-Schule.“

„Ich hätte einen Studienplatz für Sie. Zum 1. Februar 2012. Zusammen mit Marie. Könnten Sie einsteigen. Wenn Sie wollen und sich gut vorbereiten. Wollen Sie?“, fragte er mich. – „Ich bekomme mein Abi frühestens im Mai 2012 und habe keinen Einser-NC.“ – „Wollen Sie?“ – „Ja, aber…“ – „Dann sage ich Ihnen jetzt, wie Sie das machen können.“ – Ich nickte und hörte aufmerksam zu. – „Sie melden sich jetzt zum Test. Es gibt eine Art Einstellungstest, der ist eigentlich im letzten Monat gelaufen, aber es gibt noch einen Nachholtermin im Mai. Bis dahin büffeln Sie, entsprechende Lektüre bekommen Sie von mir mit.“

„Okay!?“, sagte ich. – „Wenn Sie den Test bestehen – daran habe ich keine Zweifel, wenn Sie fleißig üben – haben Sie im Februar 2012 einen Studienplatz. Ab Juni haben Sie Sommerferien und Ihre Fachhochschulreife. Machen Sie die so gut wie irgend möglich. Reden Sie mit den Lehrern, dass Sie jetzt abgehen und gute Noten brauchen. Schreiben Sie Hausarbeiten und Referate, machen Sie alles mit, was Ihre Noten verbessert. Wenn Sie den Test bestanden haben, steigen Sie im Sommer aus und machen alle vorbereitenden Dinge, die Sie für das Studium
brauchen. Pflegedienst, Ersthelferkurs, Anmeldeprozedur, Vorgespräche. Ab Februar 2012 studieren Sie. Wenn Sie das nicht packen, steigen Sie ab August 2012 wieder in die Schule ein und hängen Ihr letztes halbes Jahr bis zum Abi dran. Man darf ein Jahr aussetzen. Wenn Sie das mit dem Studium aber packen, haben Sie im Februar 2013 (also nach einem Jahr) eine offizielle Hochschul-Zugangsberechtigung, die in ganz Deutschland gilt. Für alle Studiengänge, für alle Unis. Die ist wie das Abi. Wenn Sie in der Medizin bleiben, werden Ihnen sogar alle Scheine angerechnet, die Sie seit Februar 2012 schon gemacht haben.“

„Aber normalerweise darf man doch nicht ohne Abi an eine Hochschule, oder?“ – „Nein. Aber das Abi ist nicht der einzige Zugangsweg. Man kann auch anders eine Berechtigung zum Hochschulstudium bekommen. Zum Beispiel durch eine abgeschlossene Berufsausbildung und einige Jahre Berufserfahrung. Da gibt es einige Möglichkeiten. Man muss nachweisen, dass man die Reife hat, ein Hochschulstudium zu absolvieren. Der Nachweis gilt auch als erbracht, wenn man den Eingangstest schafft und ein Jahr lang erfolgreich studiert – und (zum Beispiel) eine Empfehlung eines Hochschullehrers hat.“ – „Habe ich denn so eine Empfehlung?“ – „Ja. Ich habe ja nun viel von Ihnen gelesen, ich habe Sie persönlich kennen gelernt, Ihre Noten sind überdurchschnittlich – ich habe keine Zweifel, dass Sie bereits heute mindestens dieselbe Reife besitzen wie eine Abiturientin. Daher würden Sie von mir eine Empfehlung bekommen.“

„Und der NC?“ – „Der ist geschenkt, weil Sie direkt einsteigen. Sie bewerben sich nicht zentral, sondern direkt mit der Empfehlung. Dann könnten Sie theoretisch auch mit dreikommafünfer Durchschnitt sein. Aber nur theoretisch – praktisch würde man zweifeln, ob Sie dann den Einstellungstest bestehen.“

Ist das genial oder genial? Ich weiß das noch gar nicht richtig einzuordnen in meinem Kopf. Und auch ein Trainingslager in Niedersachsen, von dem ich heute erst zurück gekommen bin, hat mir nicht den Kopf freigepustet. Lediglich einen klitzekleinen Sonnenbrand habe ich da bekommen.

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