Pädagogisches Konzept

Schön ist es, wenn man sich nicht langweilt. Nicht mehr ganz so schön ist es, wenn man so viel zu tun hat, dass man nicht mal mehr zum Schreiben kommt. Schöner wird es jedoch, wenn die Dinge, die man zu tun hat, Spaß machen. Mir geht es gut.

Zur Zeit versuche ich ganz viel zu lernen, um meinen Einstellungstest zu bestehen. Wobei mir allerdings schon von ganz vielen Leuten gesagt wurde, dass man den nicht mit Auswendig-Lernen hinbekommt, sondern nur mit Hirn. Zum einen sind die Fragen nicht bekannt (und ständig neu), zum anderen sind die meisten Aufgaben aus Bereichen, die man allenfalls trainieren, aber nicht auswendig lernen kann. Ich lasse mich überraschen. Einen Termin habe ich noch nicht, ich weiß nur, dass es im Mai sein soll.

Damit wäre auch die Frage beantwortet, wie ich mich entschieden habe. Ich möchte auf jeden Fall diesen Test mitmachen. Vielleicht hat sich dann schon alles erledigt. Wenn nicht, werde ich das Studium versuchen –
verlieren kann ich nichts. Selbst wenn alle Stricke reißen, dann reißen sie so früh, dass ich mein Abi an der Schule noch nachmachen kann. Danke übrigens für die vielen Glückwünsche und die langen Kommentare..

Themenwechsel. (Manchmal muss auch ein harter Schnitt sein. Immer nur weiche Überleitungen machen irgendwann müde. Und es ist auch ausgesprochen schwierig, von „Schule“ auf „Sport“ überzuleiten.)

Also Sport. Beim Training auf dem Sportplatz (wo ich meistens nicht bin, da ich das terminlich nicht untergebracht bekomme) war in den letzten Wochen regelmäßig eine Susanne, 19 Jahre alt, Spasti. Spastis haben wir beim Triathlon nicht so viele wie Spifis oder Schnittis, keine Ahnung, warum. Oft ist es so, dass Spastis eine gute und eine schlechte Seite haben, also oft ist der rechte Arm stärker als der linke oder umgekehrt. Was manchmal Schwierigkeiten macht, wenn einer der beiden Arme kaum einsetzbar ist – allerdings denken viele, dass bereits unterschiedlich kräftige Arme ein Ausschlussgrund für den Sport wäre, was absolut nicht der Fall ist. Der Rennrollstuhl fährt auch dann geradeaus, wenn man nur mit einer Hand antreibt und das Handbike ebenso.
Lediglich beim Schwimmen müsste man sicher gehen, dass man auch wirklich am Ziel ankommt und nicht irgendwo im Schilf…

Cathleen und ich sollten Susanne abholen. Sie wurde sonst, so Cathleen, immer von einem Typen zum Training gebracht; am Nachttraining dürfe sie nur teilnehmen, wenn sie jemand abholt und zurückbringt. Sie wohne in einer Einrichtung und die Betreuer seien dort manchmal etwas komisch. Der Linienbus hielt direkt vor der Haustür, wir klingelten sofort an der richtigen Tür – es handelte sich um eine betreute Wohngruppe. Allerdings hatten sämtliche Leute, die uns über den Weg liefen, deutliche kognitive Einschränkungen. Ein Typ öffnete uns in Feinripp-Unterhose, Sandalen, sonst nackt, die Haustür. Nein, knackig sah der nicht aus. Er schien rund 60 Jahre alt zu sein, Goldkettchen, streng zurückgekämmte Haare, Pilotenbrille, roch nach Tabac-Rasierwasser. „Hansi“ stellte er sich uns vor.

Er dürfe uns nicht ins Haus lassen, aber er hole mal die Betreuerin. Nach fünf Minuten kam eine Frau, Mitte 40, mit Leib und Seele Sozialpädagogin, auf uns zu und wollte wissen, wieso Susanne jetzt (um 17.15 Uhr) zum Training abgeholt werde – man habe uns um 11.00 Uhr erwartet. Da hatte wohl jemand 11 und 23 Uhr verwechselt, und wir waren am späten Nachmittag verabredet. Tolle Kommunikation. Nein, das könne man ja gar nicht gestatten, man sei ja für ihre Fürsorge zuständig und sie bräuchte Schlaf.

Ich war so perplex, dass mir gar nichts einfiel, aber Cathleen hatte die passenden Worte: „Das würden wir dann doch gerne mit ihr persönlich besprechen. Wir sind mit ihr verabredet, wären Sie so freundlich, uns anzumelden?“ – „Ihr kommt da ja gar nicht rein, ich müsste sie runterholen, und dazu habe ich jetzt leider keine Zeit.“ Sagte sie und verschwand, ließ uns da vor der Tür dumm stehen. So eine blöde Krähe. Cathleen rief bei unserem Vereins-Chef an, fragte nach der Handynummer von Susanne, die wir beide nicht hatten. Als wir Susanne endlich am Telefon hatten, meinte sie, sie würde Bescheid sagen und käme gleich runter. Sie habe schon alles gepackt, bräuchte aber Hilfe von der Betreuerin.

Nach 15 Minuten öffenete die Betreuerin erneut die Tür. Stand in der Tür und schaute mit verschränkten Armen auf die Treppe im Haus. Susanne kam zu Fuß, beide Hände am Geländer, Stufe für Stufe langsam hinunter geklettert. Wie halt ein zünftiger Spasti Treppen läuft. Total verspannt, total konzentriert und jede Sekunde kurz vor dem Absturz. Als sie endlich unten war, gab ihr die Betreuerin beide Hände und ging rückwärts vor ihr her durch den Tagesraum, in dem einige Leute vor dem Fernseher saßen, Susanne an beiden Händen wackelte hinter ihr her, aus unserem Sichtfeld. Plötzlich ging 15 Meter weiter eine weitere Haustür auf und Susanne kam im Rolli zu uns gerollt. Wenigstens einen vernünftigen Stuhl, den Helium, den gleichen, den ich auch habe, hatte sie.

Die Betreuerin kam mit einem Becher Tee in der Hand nach draußen und wollte wissen, wie wir nun sinnvoll vorgehen wollten. Ich fragte: „Wo ist denn das Problem?“ und wurde gleich angepflaumt: „Ich rede mit Susanne.“ Das habe seinen Sinn, Susanne lebe hier in der Einrichtung. Aha. Am liebsten hätte ich sie gefragt, ob sie ihr Vormund ist, weil so benehme sie sich gerade, habe mir es dann aber im Interesse von Susanne verkniffen. Am Ende haben wir ihr angeboten, dass sie bei uns schlafen kann. Woraufhin die dumme Krähe doch Susanne tatsächlich nochmal zu Fuß nach oben geschickt hat, um Nachtsachen zu holen. Mein Angebot, sie könne auch von mir ein T-Shirt bekommen, lehnte die Betreuerin ab. Es habe hier alles seine Konsequenz.

In den 15 Minuten, die Susanne in ihr Zimmer und wieder zurück brauchte, wurden wir gewarnt, ob wir denn wirklich Susanne bei uns schlafen lassen wollen. „Warum sollten wir das ablehnen?“ fragte ich. Susanne sei sehr unsauber. Ich schluckte. Unser Vereins-Chef sagte, sie sei nur körperlich eingeschränkt. Warum sollte sie unsauber sein? Sie hat fast hüftlanges, braunes, krauses Haar, saubere Fingernägel, strahlende Zähne, super gepflegte Gesichtshaut … ich konnte eigentlich nur Anhaltspunkte finden, die das Gegenteil beweisen könnten. „Was meinen Sie mit unsauber?“ – „Untenrum. Schickt sie duschen, wenn sie stinkt und passt auf eure Matratzen auf“, sagte die Betreuerin. In mir kam so eine Wut hoch, dass ich am liebsten auf sie losgegangen wäre. Stattdessen drehte ich mich in die Sonne, machte die Augen zu und sagte: „Machen wir. Kriegen wir hin.“

Das war nicht der einzige Brüller. Wie wir später von Susanne erfuhren, haben ihre Eltern, beide Ärzte, sie in die Einrichtung „abgeschoben“, weil sie der Überzeugung seien, Susanne käme anders nicht zurecht. Die Eltern setzen sie unter Druck, erzeugen Angst, damit, dass sie Susanne fallen lassen, wenn sie sich gegen die Einrichtung wehrt. Und Susanne fehlen natürlich die Erfahrungen, ob sie außerhalb einer solchen Einrichtung, wo sie seit ihrem 12. Lebensjahr lebt, zurecht kommen würde. Obwohl sie nicht dumm ist – ihren Realschulabschluss hat sie. Aber dort auszubrechen und einen eigenen Weg zu beginnen, ohne Unterstützung von außen … Hand hoch, wer sich das trauen würde. Look, no hands.

Wir erfuhren auch, dass sie ihr Zimmer im 2. Stock hat und es keinen Aufzug gibt. Ein bißchen Spaß muss sein … nein, der offizielle Grund sei, dass sie Bewegung brauche. Und das Treppen klettern sei Bewegung. Ebenso wie der Rolli auch auf der anderen Seite des Gruppenraumes steht. Damit sie einmal quer durch den Gruppenraum laufen muss. Entschuldigung, aber ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte. Nein, ich habe noch kein Kind groß gezogen und ich habe auch keine sozialpädagogische Ausbildung. Aber ich bilde mir ein, zu Susanne einen Zugang zu finden, der es mir ermöglicht, sie anders zum Laufen (oder zur Bewegung) zu bringen als durch Zwang. Als durch den Druck, solange vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein bis man sein
Bewegungspensum erfüllt hat. Widerlich. Diskriminierend. Menschenverachtend. Susanne ist volljährig. Selbst wenn sie sich vollfressen und überhaupt nicht mehr bewegen würde, wäre das ihre Entscheidung. Sie sucht sich aber gerade aus eigenem Antrieb eine Ausdauersportart, die sie mit ihrer Behinderung machen kann. Wie passt das denn bitte zusammen?

Ich möchte das mal zusammenfassen: Sie hat sich wunderbar in die Gruppe integriert. Wer es nicht wusste, wäre nicht auf die Idee gekommen, dass sie in so einer Einrichtung zwischen lauter Menschen mit geistiger Behinderung wohnt. Sie war bei uns in der WG völlig normal. Hat mit uns gegessen, hat erzählt, viel gelacht, hat mir uns ferngesehen, hat beim Training völlig unspektakulär und ohne irgendwelche Probleme mitgemacht. Wir schlafen ja immer nach dem Training zu Hause ein paar Stunden, sie hat auf einem aufblasbaren Gästebett in meinem Zimmer gepennt, wir waren vorher duschen, Zähne putzen, ich wüsste wirklich nicht, was da unsauber gewesen sein sollte, wie die Betreuerin behauptet hatte.

Selbst dieses „passt auf eure Matratzen auf“ war völlig daneben. Nach dem Zähneputzen sagte sie: „Ich werde mir für die Nacht eine Windel anziehen. Nur zur Sicherheit, manchmal verkrampft sich meine Blase. Ich hoffe, das ist okay für dich.“ Hätte sie nichts gesagt, hätte ich das vermutlich nicht mal gemerkt. Ich sagte ihr, dass ich das genauso mache, wenn ich mit anderen Leuten im selben Bett oder im selben Zimmer schlafe. Daraufhin erfuhr ich von ihr, dass sie in der Einrichtung keine Pampers haben dürfe. Sie würden sie dazu verleiten, nicht auf die Toilette zu gehen. Es hätte mich auch gewundert, passt ja super ins Konzept (?!), ist dieselbe Masche wie die Sache mit dem Rolli, der extra weit weg stellt, damit die Muskeln trainiert werden. Aber auch hier bin ich überzeugt: Man bekommt es auch anders hin. Auch ohne Druck. Und ohne Angst. Oder bin ich solche große Ausnahme?!

Manchmal zweifel ich an mir. Warum bin ich / sind meine Freunde aus der WG, vom Sport etc. diejenigen, die ständig über solche Dinge stolpern? Warum gibt es so viele Behörden, Heimaufsichten, Angehörige, keine Ahnung mehr, die das scheinbar alles normal finden? Die darauf vertrauen, dass schon alles richtig sein wird? Oder trauen die sich nicht, mal die Klappe aufzumachen? Oder resignieren die bereits alle? Oder sind sie zu bequem? Bin ich irgendwann auch so? Bin ich in einer Lebensphase, in der man glaubt, man müsste so vieles verändern?

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