Strahlkraft

Anders als es die Überschrift vermuten lässt, geht es hier nicht um die aktuelle Energiediskussion. Sondern um Erik. Erik ist ein Fußgänger, ein Triathlet. Zumindest behauptet er das und trainiert regelmäßig. Beim Straßentraining habe ich ihn noch nie getroffen, aber wenn wir, wie vorgestern, auf einem Sportplatz mit unseren Rennstühlen trainieren, dreht er oft auf den angrenzenden Straßen mit dem Rennrad seine Runden.

Er also auf der Straße, wir auf dem Sportplatz: Auf dem Sportplatz (es muss einer mit Kunststoffbahn sein, rote Asche geht gar nicht) trainieren wir zwar eher weniger unsere Ausdauer, sondern mehr unsere Technik. Das bietet sich an, wenn man alle 400 Meter wieder aufs Neue am Trainer vorbeizischt. Meistens ist das ganze Spektakel nach 90 Minuten vorbei – dennoch schwitzt man mindestens genauso wie beim Ausdauertraining auf der Straße und deswegen sind dabei – ja, aus aktuellem Anlass nochmal dieses Thema -, vom ersten Anfängertraining mal
abgesehen, Pampers tabu. Vor allem bei Querschnitten, die ein Wundscheuern oder Einschneiden nicht merken. Und bevor jemand fragt: Kondomurinale für Männer reißen im Zweifel an einer Sollbruchstelle ab, Dauerkatheter (vor allem welche, die mit einem aufblasbaren Ballon in der Blase geblockt sind) sind nicht nur allgemein ungebräuchlich, sondern auch sehr gefährlich, vor allem bei Stürzen. (Autschn.)

Wer also wegen der defekten Nervenbahn zur Blase keine Kontrolle über letzte hat, geht vorher auf Klo und macht es anschließend den anderen wasch-echten Fußgänger-Triathleten nach, die es, sofern sie ein gewisses
Niveau (damit ist die Schnelligkeit, nicht unbedingt der Anstand gemeint) erreicht haben, im Laufen laufen lassen. Ja, Triathlon ist in dieser Hinsicht eine eher derbe Sportart.

Es ist sogar extra so, dass die Rennrollstühle, die eigentlich im Gesäßbereich am besten gepolstert sein sollten (um Druckstellen vorzubeugen), überall nur nicht dort gepolstert sind, damit ein Sauberhalten problemlos möglich ist.

Nun trainieren auf dieser Kunststoffbahn auch noch andere Sportler. Auch Schulklassen, auch Kinder. Insofern sind wir alle (und zwar ohne Ausnahme) sehr bemüht, den Platz so sauber wie möglich zu halten. Dazu gehört, dass man nicht auf die Bahn rotzt und dazu gehört auch, dass man, auch wenn es eher komisch (weil mutwillig) aussieht, über einem Gully am inneren Rand der Bahn anhält, wenn man merkt, dass da gerade etwas verselbständigt und spätestens eine Runde später mit einer Wasserflasche den Boden grob spült. Beim Trainer stehen immer welche. Sollte also kein Problem sein. Und kommt in den gerade mal 90 Minuten auch so gut wie nie vor.

Vorgestern waren wir auf der Kunststoffbahn und trainierten, als plötzlich ein Wolkenbruch über uns passierte. Tatjana scheuchte uns vom Platz, da es auch noch zu hageln und zu donnern anfing, so duschten wir zusammen und standen mit acht Leuten unter einem Vordach und warteten eine Stunde auf den finalen Weltuntergang. Viel hat nicht gefehlt.

Plötzlich (und hier schließt sich der im ersten Absatz geöffnete Kreis) tauchte Erik auf. Mitte 50, graue Haare, Vollbart, Brille, Schirmmütze, kein Helm, eng anliegendes pink-weißes Trikot, hellblaue Radlerhose mit Lederbesatz und Radschuhe, dazu eine Brille, mit der er aussieht wie Puck, die Stubenfliege, nass bis auf die Knochen und vom hochspritzenden Straßenschmutz am Rücken komplett eingesaut. Er stellte sein Rad weg und positionierte sich theatralisch vor uns im Regen, breitete die Arme aus, als wollte er duschen und hatte nun nach einer Stunde endlich den Wasserhahn gefunden.

„Erik, komm doch zu uns unter das Vordach, dann wirst du nicht so nass“, sagte Yvonne. – „Aaaach, ist das herrlich!“, antwortete Erik und schaute in den Himmel, ließ sich die Hagelkörner direkt ins Gesicht prasseln. Das Gewitter war direkt über uns und Erik drehte kleine Runden auf dem Sportplatz. Dass er dort als lebendiger Blitzableiter unterwegs war, musste er in seinem Alter alleine wissen, Tatjana sagte es einmal, doch als er es besser wusste, ließ sie ihm seinen Spaß.

„Ich will euch doch nicht den Platz wegnehmen“, sagte er, und fügte hinzu: „Ihr habt es schwer genug. Ich bewundere euch ja für euren Mut und eure Kraft.“ – Bewundern darf er gerne, aber schwer genug hat es meines Erachtens nur, wer keine neuen Herausforderungen mehr sucht. Da es aber nichts bringt, sich mit einem Erik darüber zu unterhalten, lächelte ich nur brav.

„Wer von euch hat denn schonmal einen richtigen Triathlon mitgemacht?“ fragte er. Alle alten Hasen meldeten sich. „Doch so viele. Und wie ist das bei euch, ich habe mal gesehen, ihr habt so Helfer, die euch aus dem Wasser holen und in den Rollstuhl setzen dürfen und euch beim Neo ausziehen helfen, aber alles andere müsst ihr alleine machen, oder?“

Wir nickten im Takt. „Die Regeln sind dieselben. Eine einzige Ausnahme gibt es: Üblicherweise ist erst Schwimmen dran, dann Radfahren, dann Laufen. Bei Rollifahrern ist nach dem Schwimmen meistens erst Schnellfahren mit dem Rennrolli (Laufen) und dann Handbiken (Radfahren) dran. Aus organisatorischen Gründen.“

„Und wie macht ihr das“, fragte Erik weiter, „mit den Toiletten? Haben die da auch rolligerechte Dixiklos?“ – Ich nickte einfach, da ich wusste, was kommen würde und ich keine Lust hatte, mich mit Erik über Ausscheidungen zu unterhalten. Cathleen und Simone hatten ganz schnell ein anderes Thema für eine interne Unterhaltung, Yvonne fragte Tatjana plötzlich über irgendwelche Termine aus, Nadine und Merle banden sich die Schuhe zu oder suchten etwas im Rucksack. Erik musste das Thema unbedingt noch vertiefen: „Achso. Muss ich mal drauf achten, habe ich noch nie gesehen. Ich geh da nie hin, weil …“

Wollte ich das wissen? Nein. „Erik!“, unterbrauch ich ihn. „Ich will das nicht wissen. Deine Toilettengewohnheiten interessieren mich nicht.“ – Zugegebenermaßen etwas harte Worte, aber Erik wurde richtig böse. Hagelkörner auf dem Kopf scheinen doch nicht so gesund zu sein. „Fahr mich nicht so an, ja? Noch dazu vor deinen Freunden.“, befahl er mir. „Das gehört zum Sport dazu, ich kann nicht ahnen, dass ihr solche Komplexe habt.“

„Jetzt fehlt nur noch, dass er meine Behinderung für meine angeblichen Komplexe als Ursache vermutet, dann raste ich aus“, dachte ich mir im Stillen. Alle anderen reagierten überhaupt nicht, ich schaute Tatjana an. Er sagte: „Ja, ist so, sorry. Hier, ich zeig dir was.“ Ging fünf Schritte zurück, zog seine Radschuhe aus und schoss sie unter das Vordach, stellte sich breitbeinig hin und … ja wirklich. Kein dummer Scherz. In die Hose. Im Stehen. Auf dem Sportplatz. Unglaublich.

Ich stieß Cathleen mit dem Ellenbogen an, die, während sie mit Simone redete, nach vorne schaute, mitten im Satz stockte und nur ein: „oah nein!“ über die Lippen brachte, damit auch Simone aufmerksam machte, die noch ein „bäh“ anfügte. Nun drehte sich auch noch Tatjana um, sah das Schauspiel und runzelte die Stirn. Kristina konnte sich vor Lachen nicht mehr halten und rief laut: „Pollution [engl.]!!! Wo ist mein Facebook-Handy?! Was für eine Strahlkraft.“

Tatjana sagte zu ihm: „Wenn du dein Ding jetzt hier noch vor den Mädels auspackst, kriegst du von mir höchstpersönlich einen Tritt in die Eier und ne Anzeige dazu.“ – „Du willst Trainerin sein? Du bist eine halbe Portion. Und ich sage dir eins: Aus deinen Mädchen hier wird nie was. Das ist alles nur Rumgeeier und Babypuder. Triathlon ist was für richtige Kerle.“

Jaja. So ein Psychopath. Und was mich am meisten ärgert: Wir bemühen uns, den Platz sauber zu halten und er stellt sich da hin und schifft mutwillig auf die Kunststoffbahn. Inzwischen hat Erik offiziell vom Vorstand ein Hausverbot bekommen, wie ich heute erfuhr. Manchmal sind die richtig schnell.

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