Der zweite Praktikumstag ist vorbei. Er war deutlich spannender als der erste. Und deutlich emotionaler. Oder, um es anders zu beschreiben: Dieses Mal waren nicht mehr alle Kollegen nett zu uns. Wir mussten unsere erste Duftmarke setzen und entsprechend gibt schon den ersten Kollegen, der uns hasst. Beim Frühstück sollte man das übrigens nicht lesen, es wird super-eklig. Und etwas Zeit braucht man auch.
Wir sollten auf einer gastroenterologischen (also Magen-Darm-Krankheiten) Station mit der Stationsärztin mitlaufen und darüber hinaus nach Möglichkeit bei allen Notfällen, die von der zentralen Notaufnahme in die am Wochenende nur für Notfälle geöffnete Ambulanz einzeln herübergeschickt werden, dabei sein. Unsere Anleiterin sollte gegen 10 Uhr erscheinen, wir mussten allerdings um 8 Uhr auf der Matte stehen und sollten so lange schonmal einem ihrer Kollegen hinterherrollen.
Der Kollege war Anfang 40, gebürtiger Italiener, sprach mit deutlichem Akzent sehr einfaches Deutsch, etwa 165 cm groß, schlank, muskulös, braungebrannte Haut, kurze schwarze Haare. Er wirkte auf mich als hätte er zu viel Kaffee getrunken. Aufgekratzt, wirbelig. Nervig. Er begrüßte uns mit: „Ah die beiden eifrigen Studentinnen, die mir jetzt noch meine letzte Stunde mit ihren vielen Fragen auf die Nerven gehen und alles besser wissen. War nur ein Spaß. Stehen Sie mir heute bloß nicht im Weg rum, warum wollen Sie eigentlich Arzt werden, wenn Sie im Rollstuhl sitzen, das ist doch gar nichts für Sie? Haben Sie keine andere Aufgabe gefunden, Sie sind doch bestimmt nicht dumm? Ich muss jetzt noch kurz in mein Zimmer und dann will ich mir mal eine Patientin ansehen von der Station, sie hat Probleme mit ihrem neuen Stoma, Sie dürfen dabei sein, aber Sie haben Sendepause, damit wir gleich richtig abgesprochen sind, das ist hochsensibel, und Sie stellen sich vor das Fenster und lassen mich meine Arbeit machen. Avete capito?“
Marie murmelte sich ein „Si capisce!“ in den nicht vorhandenen Bart, woraufhin er noch irgendwas auf Italienisch plapperte und dann mich mit seinem Handrücken von vorne an der Schulter anstieß und meinte: „Sie wissen, was ein Stoma ist?“ – Ich musste an das höhenverstellbare Klo denken. Und fragte zurück: „Na sicher. Hat die Patientin ein Kolo- oder ein Ileostoma?“ – Seine Antwort: „Ja, finden Sie das mal heraus! Wir treffen uns in 20 Minuten im Untersuchungsraum 1 im Erdgeschoss, umgezogen in grüner Arbeitskleidung. Und vergessen Sie nicht …“, sagte er, während er mit ausgestrecktem Zeigefinger mehrmals an meinen Button tippte, der auf meiner Brust klemmte, „Ihren ‚Ich lerne noch‘-Aufkleber an der anderen Kleidung zu befestigen. Nicht, dass man Sie für wichtiger hält als Sie sind.“
Die Tür schloss sich hinter ihm, Marie seufzte einmal und sagte: „Das kann ja heiter werden.“ – Ich antwortete: „Na komm, die zwei Stunden stehen wir durch. Danach wird es schlagartig besser.“
Nach dem Umziehen rollten wir in einen riesigen Untersuchungsraum. Im Raum wirbelte eine Krankenschwester herum und hatte bereits alles mögliche vorbereitet. Sie begrüßte uns freundlich. Ich schätzte sie auf Mitte 50. Sie fragte: „Sind Sie gleich bei der Untersuchung dabei?“ – Wir nickten. – „Schauen Sie zu oder assistieren Sie?“ – „Nee, wir schauen nur zu.“ – „Sonst hätte ich den Tisch gleich noch ein wenig weiter rübergezogen, damit wir auf der Seite genug Platz haben.“ – „Nee, wir haben schon Anweisung bekommen, uns mucksmäuschenstill vor das Fenster zu stellen.“ – „Vor das Fenster? Da sehen Sie doch nichts. Ich zieh den Tisch ein Stück weiter rüber. Bums, aus. Konnte ich ja nicht wissen. Stellen Sie sich mal dorthin.“
Einen Moment später sagte sie: „Ich rufe jetzt die Patientin auf.“ – Sie verschwand, kam kurz danach wieder. Hinter ihr trottete eine etwa 35 Jahre alte Frau im Klinik-Nachthemd, auf Birkenstock-Schuhen, gestützt von einem Mann, nach erster Vermutung ihr Freund oder Ehegatte. Sie schlich deutlich gekrümmt und schien starke Schmerzen zu haben. Sie war leichenblass und wirkte auf mich wie eine Hochschwangere in den Wehen. Sie setzte sich auf den Untersuchungstisch. Dann guckte sie zu uns. Ich rollte den einen Meter auf sie zu, stellte mich vor, gab ihr die Hand und fragte: „Wir sind heute im Rahmen unseres Studiums Gast auf dieser Station. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir bei der Untersuchung anwesend sind?“ – „Selbstverständlich nicht.“
Die Frau war den Tränen nahe. Sie war völlig aufgelöst. Marie gab ihr auch die Hand. Dann fing sie zu heulen an. Und ohne dass jemand sie fragte, redete sie: „Ich habe solche Angst vor dem, was jetzt kommt. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, habe mich im Bett hin und her gedreht, wusste vor Schmerzen nicht, wie ich liegen soll. Am besten ging es eine Zeitlang im Vierfüßlerstand. Mir ist seit gestern abend übel ohne Ende, ich habe mich zwei Mal übergeben. Fieber habe ich nicht. Ich war vor zwei Tagen unterm Messer, mein Pouch aus den 1990er-Jahren wurde stillgelegt, aber belassen. Ich habe ein Stoma bekommen, sowas hatte ich vor vielen Jahren schon einmal. Damals hatte ich alle Hoffnung in den Pouch gesteckt, aber der hat sich auch ständig entzündet und nun versuchen wir nochmal, ihn ein paar Monate zu entlasten, aber vermutlich wird er nie wieder angeschlossen. Und das neue Stoma funktioniert irgendwie überhaupt nicht. Da kommt höchstens mal ein bißchen Schleim.“
Ach. Du. Scheiße. Ich konnte ihr so halb folgen, Marie wohl auch. Eines darf man in einem anspruchsvollen Studium nicht falsch machen: Im Zweifel gilt es immer, die Klappe zu halten und später nachzulesen. Sind Fragen unvermeidbar, sollte man sie überlegt stellen. So sollte man niemals fragen: „Was ist ein Pouch?“ – Sondern lieber: „Was für einen Pouch haben Sie?“ – Die erste Frage suggeriert, dass man überhaupt keine Peilung hat, die zweite, dass man weiß, dass es verschiedene gibt. Falls nicht, kommt man da schneller wieder raus als wenn erstmal alle denken, man sei betriebsblind.
Sie antwortete: „Einen J-Pouch. Also den üblichen. Ich habe den 1995 bekommen, nachdem man mir in einer Not-OP den gesamten Dickdarm entfernt hat. Es hatte sich über Nacht ein toxisches Megakolon gebildet.“ – Okay. Ein toxisches Megakolon ist eine Komplikation bei der Colitis ulcerosa (chronische Dickdarmentzündung), die absolut lebensbedrohlich ist. Ein Pouch, so mutmaßte ich in dem Moment, und das bestätigte sich dann später auch, ist ein vom Chirurg angelegtes Resevoir im Bauchraum, das aus Dünndarmschlingen genäht wird und zwischen Dünndarm-Ende und After eingesetzt wird, um salopp gesagt zu erreichen, dass der flüssige Dünndarmstuhl gehalten und eingedickt werden kann. Der Pouch ersetzt also quasi den Dickdarm – nur leider entzündet er sich meistens genauso wie bislang der inzwischen entfernte Dickdarm.
Der begleitende Ehemann sagte: „Und jetzt hat meine Frau Angst, dass hier wieder etwas lebensbedrohliches ist. Als der Dickdarm entfernt wurde, hat man auch viel zu lange rumgeträumt und dann war plötzlich das Theater groß. Ich verstehe nicht, warum man sie nicht schon gestern abend untersucht hat.“
Marie antwortete: „Das weiß ich auch nicht. Das kann ich aber auch überhaupt nicht beurteilen, dafür bin ich noch viel zu unerfahren. Ich drücke Euch aber die Daumen, dass der Doktor Ihnen gleich helfen kann und es Ihnen gleich besser geht.“ – Die Frau nahm Maries Hand und strich ihr über den Handrücken. Die war völlig fertig. Um das zu erkennen, mussten Marie und ich kein abgeschlossenes Studium haben. Um so erstaunlicher, dass kurz danach der Arzt reingepoltert kam, auf den wir alle warteten. Und der erste Spruch war: „Na, haben Sie schon die Anamnese erhoben? Sie sollten sich doch dort vor das Fenster stellen.“
Bevor Marie und ich antworten konnten, sagte die Schwester: „Vor dem Fenster ist schlecht, da kriegen sie ja nichts mit. Ich hatte die beiden hierhin gestellt, das geht auch, oder?“ – Und bevor er etwas antworten konnte, hakte ich ein: „Anamnese haben wir uns mit Blick auf den Zustand verkniffen. Wir sind davon ausgegangen, dass die bekannt ist, wenn sie in dieser Klinik schon mindestens eine Nacht verbracht hat.“
Der Arzt fragte: „Welchen Zustand?“ – „Naja, sie weint. Es geht ihr schlecht.“ – „Sie beiden müssen noch viel lernen. Aber dafür sind Sie ja hier. Sie fahren jetzt vor das Fenster und haben jetzt Sendepause!“
Während wir vor das Fenster rangierten, sagte die Patientin: „Falls Sie dort unten spiegeln wollen, möchte ich bitte unbedingt ein Schmerzmittel bekommen, ich halte es so schon kaum noch aus vor Schmerzen. Und am liebsten würde ich schlafen.“ – Der Arzt ließ sich zwei Spritzenampullen mit Pethidin und Midazolam aufziehen, dröhnte ihr jeweils was davon in die in der Armvene steckende Kanüle. Die Patientin nickte sofort weg. Marie und ich gingen davon aus, dass der Arzt weiß, was er da tut, es mutete aber schon sehr seltsam an. Ich hätte erstmal gefragt, was jetzt das akute Problem ist, aber vielleicht wusste er das ja schon.
Ich kenne die Gründe nicht, aber es machte schon einen merkwürdigen Eindruck, wenn jemand ein Video-Endoskop verwendet, dann aber das Bild nicht auf den Monitor übertragen lässt, sondern extra nur auf ein digitales Okular. Oder anders ausgedrückt: So, dass nur er gucken kann, obwohl andere auch gerne was sehen würden. Marie und ich haben zum ersten Mal in unserem Leben live einen künstlichen Darmausgang gesehen. Aus einem Meter Entfernung halt. Der Arzt meinte, der sehe normal aus, noch etwas angeschwollen nach der OP, im Inneren sehe auch alles gut aus, soweit er das sehen könne. Auch der Pouch sei gut. Dass bisher noch
kein Stuhl aus dem Ausgang fließe, sei nicht beunruhigend – jeder Darm sei ein hochsensibles Organ und einige Därme spucken danach wie ein Wasserfall, andere gönnen sich drei Tage Ruhe. Panik sei ein schlechter Weggefährte.
Wenn seine Frau jetzt nach der Operation Schmerzen hätte, sei das ebenfalls normal. Dann müsste sie halt öfter um Schmerzmittel bitten, er mache nochmal einen Vermerk in die Akte, dass die Schwestern darauf achten sollten. So eine frische Sache brauche ein paar Tage Ruhe und Geduld, man solle jetzt bloß nicht in Hysterie verfallen. Als Mann solle er etwas beruhigend auf seine Frau einwirken. Dann entschuldigte sich der Arzt, er habe seit einer Stunde Feierabend und würde jetzt gerne nach Hause. Falls im Laufe des Tages noch Fragen auftauchen sollten, würde der diensthabende Kollege beraten – seine Frau käme jetzt in einen Aufwachraum und sei in zwei Stunden wieder wach und könnte dann auf die Station zurück. Mittagessen könnten die beiden also zusammen, wobei die
Frau nach der Operation natürlich noch nicht wieder alles essen dürfe. Ob die Ernährungsberaterin schon da gewesen sei, wollte er wissen, und als der Ehemann das bejahte, sagte er: „Sehen Sie, es geht alles seinen Weg.“
Von uns verabschiedete er sich nicht, wünschte uns aber viel Spaß mit seinen Kollegen. Dann war er weg. Die Schwester schrieb noch einige Zeit an einem Protokoll, dann fragte der Ehemann: „So, und jetzt?“ – „Jetzt schieben wir Ihre Frau gleich in den Aufwachraum und nach ein, zwei Stunden kann sie dann zurück auf die Station.“
Der Bericht wird so irre lang, weil ich gerne alles aufschreiben möchte, was passiert ist. Und ich habe das Gefühl, nur alles zusammen ergibt die richtigen Zusammenhänge und Emotionen. Mir kam diese ganze Sache so unheimlich falsch vor. Ich guckte Marie an und ich hatte ohne jedes Wort im Gefühl, dass sie ebenfalls ziemlich ratlos war. Wenn diese Patientin sich schon die ganze Nacht vor Schmerzen im Bett hin- und hergewälzt hatte, wieso hatte sie dann keine stärkeren Schmerzmittel bekommen? Wieso ist das die einzige Therapie und was hatte der Arzt gerade gemacht? Mit dem Endoskop kann ich in den Dünndarm so gut wie gar nicht hinein. Er hat sich einen normalen Befund anzeigen lassen und den Rest als Hysterie abgetan. Ist diese Frau, die leichenblass und gekrümmt in das Untersuchungszimmer kam, wirklich hysterisch? Oder gibt es noch ein ganz anderes Problem und hat sie nach der Vorgeschichte vielleicht einen richtigen Riecher? Oder ist das einfach eine fiese OP und man muss die ersten Tage die Zähne zusammenbeißen, womit diese Frau ob ihrer bewegten Vergangenheit einfach Schwierigkeiten hat?
Ich rollte an die Position, an der vorher der Arzt gesessen hatte. So ein Endoskop würde ich ja gerne mal selbst in der Hand halten. Ob es wohl schwer ist? Bloß nicht anfassen, dafür ist es noch viel zu früh. Aber es sieht schon interessant aus und ist so teuer wie ein Neuwagen … wieso zeigt das Pulsoxymeter auf dem Monitor gegenüber eigentlich nur Null-Linien an? „Marie? Komm mal bitte. Guck mal“, sagte ich und deutete auf den Monitor. Der Ehemann guckte auch dorthin und fragte: „Oh nein! Ist sie tot?“ – „Quatsch“, sagte ich und merkte ein leicht panisches Gefühl in mir aufsteigen, „das Gerät misst nicht. Sie atmet, das sieht man doch.“
Ich fühlte an ihrem Hals den Puls. Der raste. Ich hob das Bettlaken, mit dem sie zugedeckt war, hoch. Der rot leuchtende Fingerclip lag lose neben ihrer Hand. „Da hat sich nur der Clip gelöst. Ich mach den kurz nochmal dran.“ – Die Schwester guckte mich entsetzt und ratlos zugleich an. Es dauerte zwei, drei Sekunden, dann wurden Werte auf dem Monitor angezeigt. Puls um die 130, Sauerstoffsättigung 82%. Diese beiden Werte wurden abwechselnd normal und invers dargestellt und normalerweise würde zumindest der zweite von einem ohrenbetäubenden Pling-Pling, Dingel-Dongel-Dingel-Dongel, Tututututututut oder wenigstens Dauermöööööp begleitet werden. Warum das nicht passierte, konnte man rechts oben lesen: „Alarme aus!“ stand dort, deutlich sichtbar. Geil.
Ein Messfehler? Hatte sie lackierte Fingernägel? Nee, hatte sie nicht. Eine Blutarmut nach der OP oder nach der langen entzündlichen Phase vor der OP? Und hätte das Einfluss auf den Wert? Wie war das noch gleich? Und wie passte der hohe Puls dazu? Doch wohl nur, weil das Herz versucht, so schnell wie möglich sauerstoffreiches Blut zum Hirn zu bringen, weil das, was da vorbei kommt, nicht ausreichend gesättigt ist. Oder? Andere Ursachen? Was weiß denn ich?!
Ruhe bewahren. Ich sagte zu der Schwester: „Sauerstoffsättigung 82%, Puls 130. Da sollte nochmal ein Arzt draufgucken.“ – Die Schwester kam so um den Untersuchungstisch, dass sie den Monitor sehen konnte. Und fragte: „Ist der Clip richtig dran? Ich mach ihn mal an die andere Hand.“ – Dieselben Werte. Dann sagte sie: „Dann rufe ich mal auf der Station an, der Herr Dr. […] hat ja jetzt Feierabend.“ – „Piepen Sie mal bitte die Frau […] an.“ – „Die Chefin kann ich dafür nicht holen, die dreht mir ein Gewinde in den Hals.“ – „Unsinn. Das ist unsere Anleiterin
und wir haben Order, sie immer zu fragen, wenn wir nicht weiter wissen. Ich nehme das auf meine Kappe, ich sage, dass ich darauf bestanden habe. Oder noch besser: Sagen Sie mir mal bitte die Nummer, ich mache das selbst. Dann können Sie ihr schonmal eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht setzen.“
Das war ja noch nie da. Die Schwester gab mir die Kurzwahlnummer für den Pieper unserer Professorin, wetzte zum Schrank, holte eine Einmalmaske für die Sauerstoffinhalation raus, steckte das Ding samt Befeuchter in den Wandanschluss, hängte ihr das um das Gesicht. Der Ehemann guckte mit großen Augen. „Was ist mit meiner Frau?“ – „Der eine Wert auf dem Monitor gefällt mir nicht. Ich bin aber zu unerfahren, um zu entscheiden, was das bedeutet. Deshalb kommt jetzt nochmal ein Arzt und guckt nach ihr. Solange bekommt sie ein wenig Sauerstoff um die Nase, damit ihr das Atmen etwas leichter fällt.“ – Und damit das, was sie atmet, der vermutlich dringend benötigte Sauerstoff ist, fügte ich in Gedanken hinzu.
„Sie hat doch Midazolam bekommen – ziehen Sie mal bitte einen Flummi auf“, fügte Marie hinzu. „Nicht geben, sondern schonmal bereithalten.“ – Die Schwester tat es. Holte eine Ampulle Flumazenil aus dem Schrank und
füllte sie in eine Spritzenampulle um, beschriftete sie und legte sie neben der Patientin auf den Tisch. Man merkte, dass auch sie aufgeregt wurde. Dann endlich der Rückruf. Meine Anleiterin. „Oh können Sie bitte kommen, wir sitzen hier noch neben der Patientin von Dr. […], die soll in den Aufwachraum, aber sie hat auf dem Monitor nur 82% Sauerstoffsättigung und hier ist kein Arzt.“ – „Vermutlich spinnt das Gerät. Klemmen Sie das Ding mal an den großen Zeh, unterhalb des Nagels. Haben Sie mal einen Puls gemessen?“ – „130, auch gefühlt, das Herz rast.“ – „Rufen Sie mal nach einer Schwester, sie soll Sauerstoff dranhängen. Ich komme sofort. Kein Grund zur Panik, okay?“
Das aus ihrem Mund … also war die Situation so ernst wie wir vermutet haben. Ich sagte: „Sie kommt mal eben vorbei.“ – Meine Finger zitterten. Wenn wir hier jetzt Scheiße gebaut hatten und das alles eine harmlose Erklärung hätte, könnten wir uns wohl warm anziehen. Wie stehen wir vor dem Ehemann und der Schwester? Und wenn nicht? Darüber wollte ich nicht nachdenken, schob den Gedanken zur Seite. Ich nahm mir das Stethoskop, das neben dem Monitor hing, legte die Membran auf die Pulsader an ihrem Handgelenk und zählte. Puls 130 könnte wirklich hinkommen. Achja, die Klammer sollte ja an den großen Zeh.
Kurz darauf ging die Tür auf. Unsere Anleiterin kam rein. Ja, die war flott unterwegs gewesen. Sie fragte ausgerechnet mich und nicht die Schwester, was hier los sei. Mir schwante schon Böses. Sollte ich jetzt selbst darauf kommen, indem ich das alles noch einmal wiederholte? Egal. Ich stotterte mir zurecht: „35-jährige Patientin nach radikaler Kolektomie 1995. Bekam einen Pouch.“ – „Totale Kolektomie mit Pouchanlage, ja. Weiter?“ – „Ja, nach toxischem Megakolon.“ – „Spielt jetzt keine Rolle. Akut?“ – „Akut ist Zustand nach Anlage eines Ileostomas zur Entlastung des Pouch, weil der sich ständig entzündet hatte.“ – „Chronische Pouchitis. Weiter?“ – „Die OP war vor zwei Tagen, jetzt Klagen über massive Schmerzen, hat sich die ganze Nacht hin und her gewälzt, im Vierfüßlerstand geschlafen, sich übergeben, konnte…“ – „Übergeben? Wie oft?“ – „Zweimal, glaub ich.“ – „Geruch? Konsistenz?“ – „Keine Ahnung.“
Der Ehemann mischte sich ein: „Widerlich. Wie Kuhscheiße.“ – „Wie hat der Kollege jetzt befundet?“ – „Stoma leicht geschwollen, Pouch ohne krankhaften Befund. Hatte Dr. […] gespiegelt.“ – „Sono?“ – „Keine Ahnung.“ – „Kein Sono eben?“ – „Nein.“ – „Nicht gemacht oder nicht gesehen?“ – „Nicht gemacht.“
Sie fragte den Ehemann: „Hat man ein Ultraschall von dem Bauch Ihrer Frau gemacht in den letzten Stunden?“ – „Nein.“
Während sie fragte, untersuchte sie die Patientin von Kopf bis Fuß. In einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Gefühlt hier, gedrückt da, abgehört da, den Stomabeutel ab, kurz drunter geguckt, wieder draufgeklickt. Dann: „Was hat die Patientin für Medikamente bekommen zur Spiegelung?“ – „Pethidin und Midazolam.“ – „Midazolam?“ – „Ja.“ – „Sicher?“ – „Ja! Er hat es gesagt und es war kein Propofol, denn es war keine milchige Flüssigkeit, die er gespritzt hat.“
Die Schwester sagte: „Ja, Midazolam. Drei Mal 10 und am Ende nochmal 5, weil sie sehr unruhig war. Außerdem 50 Pethidin.“ – „Ziehen Sie mir mal bitte Flumazenil auf. Wir bereiten dem Spuk jetzt hier mal ein Ende.“ – „Liegt hier schon bereit.“ – „Sehr gut.“ – „Das kam von der jungen Dame dort“, sagte sie und zeigte auf Marie. – „Noch besser“, sagte unsere Anleiterin. Die Schwester bereitete das Ultraschallgerät vor, dann nahm unsere Anleiterin den Schallkopf in die Hand und innerhalb von 10 Sekunden hatte sie drei Bilder ausgedruckt. „Das muss jetzt mal zack-zack gehen, ich zeige Ihnen das ein anderes Mal“, sagte sie zu uns. Einen Moment später war die Patientin hellwach. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Sie war panisch, versuchte, sich die Maske vom Gesicht zu nehmen.
„Ganz ruhig bleiben, die Untersuchung ist vorbei. Lassen Sie die Maske mal drauf, das ist nur Sauerstoff, damit Sie leichter Luft bekommen.“ – Sie drehte ihren Kopf, ihr Mann hielt ihr die eine Hand, mit der anderen Hand griff sie nach der Hand von Marie. Die Ärztin fuhr fort: „Frau […], Sie haben vermutlich einen Ileus. Das ist ein Darmverschluss. Vermutlich durch die Schwellung im Zusammenhang mit der Operation. Ist Ihnen aktuell noch übel?“
Die Patientin wurde wieder panisch, fing an zu weinen. „Ich hatte das schonmal, muss ich nochmal operiert werden?“ – „Im Moment nicht. Im Moment werden wir versuchen, das zu entlasten und dann ein paar Tage abwarten, ob die Schwellung zurückgeht. Ist Ihnen aktuell noch übel?“ – „Ja, ich habe ganz heftigen Druck auf dem Magen und ich habe das Gefühl, ich muss jeden Moment spucken.“
Zur Schwester sagte sie: „Holen Sie mal eine Spuckwanne. Eine große. Und eine große Spritze, am besten eine Blasenspritze oder sowas.“ – Und dann zu der Patientin: „Ich werde Ihnen gleich eine Nasensonde legen. Also einen kleinen Schlauch durch die Nase in den Magen, damit die Soße abfließen kann. Das wird einmal einen Moment lang richtig unangenehm, aber danach fühlen Sie sich wie neu geboren und alles ist vorbei. Das Problem ist, dass der Darm an einer Stelle zugeschwollen ist und wenn es in die eine Richtung nicht weitergeht, transportiert der Darm alles in die andere Richtung. Deswegen liegt der gesamte Nahrungsbrei jetzt bei Ihnen im Magen und will raus. Und deswegen geht es Ihnen so schlecht. Okay?“
Die Frau weinte: „Ich möchte aber keine Nasensonde.“
Die Ärztin sagte: „Das geht nicht anders. Es geht Ihnen in fünf Minuten sehr viel besser, das verspreche ich Ihnen. Es gibt nur noch ein kleines Problem. Die Narkose eben haben Sie nicht gut vertragen. Wir haben Ihnen ein Gegenmittel gespritzt, das die Narkose aufhebt. Damit können wir Ihnen nicht noch eine neue Narkose geben. Die würde nicht wirken und andere Mittel, die wirken würden, kann ich Ihnen nicht ohne Anästhesist und nicht ohne Schlauch in die Lunge geben. Das wäre alles unverhältnismäßig und eine reine Quälerei. Deswegen würde ich Ihnen gerne die Sonde kurz ohne Narkose legen. Ich gebe mir ganz viel Mühe und es wird ganz schnell vorbei sein.“
Die Schwester kam mit einer großen Plastikwanne für Instrumente wieder. Die Ärztin forderte mich auf, mich auf Befehl mit dem ganzen Körpergewicht auf die Füße der Patientin zu legen. Schwester und Ehemann sollten jeweils einen Arm festhalten. „Sie wird mit Händen und Füßen um sich schlagen und treten, Sie müssen richtig gut festhalten. Richtig gut. Okay?“ – Die Patientin stimmte zu. Ich setzte mich mit dem Po auf das untere Ende des Untersuchungstisches, griff ihre Fußgelenke und stützte mich mit meinem gesamten Körpergewicht dagegen. Die Ärztin bereitete alles vor, dann ging es los. „Festhalten! Und schlucken, schlucken, schlucken, schlucken!“
Die Frau versuchte zu zappeln, aber alle hielten fest. Nach fünf Sekunden war alles vorbei. Die Ärztin zog eine eklig braune Flüssigkeit mit der Blasenspritze durch den Schlauch und plötzlich wurde der Druck so groß, dass der Kolben der Spritze rausploppte und sich die ganze Soße schwallartig in die Wanne ergoss. „Falls jemand kotzen muss, bitte direkt auf den Fußboden. Nicht über die Geräte und nicht hier erst noch rumlaufen und hinfallen. Einfach auf den Fußboden“, sagte unsere Anleiterin. Ein bestialischer Gestank breitete sich aus. Die Schwester hielt sich einen Ärmel vor das Gesicht, ging zur Tür und betätigte die Lüftung. Nachdem der größte Teil der Brühe rausgelaufen war, zog die Ärztin den Rest des Mageninhalts mit der Spritze nach draußen. Nach drei
bis vier Minuten war alles draußen, dann drückte die Ärztin der Schwester die Wanne in die Hand und sagte: „Bitte sofort vernichten.“
Die einzige, die das alles toll fand, war die Patientin. Sie bekam wie auf Bestellung rosa Farbe ins Gesicht und wurde richtig fröhlich. Sie bekam die Sonde festgeklebt und wurde kurz danach auf ihre Station zurückverlegt. Unsere Anleiterin sagte anschließend zu uns: „Wer von Ihnen ist eigentlich auf die Idee mit dem Flumazenil gekommen?“ – Ich deutete auf Marie. Die Ärztin sagte: „Woher wussten Sie das? Das können Sie eigentlich noch gar nicht wissen.“ – „Meine Mutter ist Ärztin und ich habe schon als ich 14 war immer bei ihr in der Praxis geholfen und Blutanalysen mitgemacht und so weiter. Alles, was mit Medizin zu tun hat, sauge ich auf wie ein Schwamm und das behalte ich auch. Ich habe meine Mutter mal gefragt, warum die Rettung von Michael Jackson so schwer war und am Ende gescheitert ist. Da hat sie mir von der geringen therapeutischen Breite von Propofol erzählt und dass es dagegen kein Antidot gibt, man also nur immer weiter beatmen kann, bis die Wirkung raus ist. Während man bei Midazolam einfach ein Gegenmittel geben kann, wenn da was falsch läuft.“
„Und warum nimmt man Midazolam heute eigentlich nicht mehr, Jule?“ – „Weil es so einen langen Überhang hat, es dauert Stunden, bis die Patienten aus der Kurznarkose wieder wach sind. Man braucht ein zusätzliches starkes Schmerzmittel, die Patienten dämmern vor sich hin – bei Propofol geht es wie mit einem Lichtschalter. Narkose an, und wenn man nicht nachdosiert ist kurz danach die Narkose vorbei.“ – „Und woher wissen Sie das? Das war doch noch gar nicht dran im Studium.“ – „Ich stand daneben, als Maries Mutter das erklärt hat.“ – „Okay. Marie, was muss man denn beachten, wenn man das Flumazenil gegeben hat? Stichwort: Wirkdauer?“ – „Es wirkt kürzer als das Midazolam, deswegen muss sie später vermutlich noch was nachgespritzt bekommen.“ – „Sie wissen beide,
dass Sie der Frau gerade sehr geholfen haben, ja?“ – „Naja, ohne uns hätte das Gerät im Aufwachraum gepiept oder sie hätte dort alles vollgekotzt.“ – „Oder sie hätte auf dem Weg dorthin in Rückenlage erbrochen und die ganze Soße wäre in die Lunge gelaufen. Warum haben Sie mich eigentlich erst bei 82% gerufen?“
Ich antwortete, und ich weiß, dass mich der italienische Arzt dafür vermutlich immer hassen wird: „Das war der erste Wert, den das Gerät anzeigte, als ich es angeschlossen habe. Davor zeigte es nur Nullen an, weil der Clip neben dem Finger lag.“
Das gibt vermutlich noch jede Menge Stress. Stressfrei verlief der Tag nach diesem ersten Schreck. Von dem Moment abgesehen, als wir noch einmal bei der Patientin am Zimmer klopften und fragten, wie es ihr inzwischen gehe. Die Frau schlief (endlich), aber der Ehemann sagte mit Tränen in den Augen: „Ich bin Ihnen beiden so dankbar. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn Sie das nicht übernommen hätten. Und der Ärztin bestellen Sie das bitte auch. Die war richtig top.“ – Und wieder denke ich: Ich hab doch eigentlich gar nix gemacht. Außer jemanden angerufen, weil mir ein Messwert komisch vorkam.