Im Schlafanzug

Der Idiotenmagnet gehört inzwischen wohl zu mir wie ein Wahrzeichen
zu einer Stadt. Vielleicht ändert sich das im Laufe der nächsten Jahre bis Jahrzehnte noch, wenn das Verständnis von „Behinderung“ einen anderen Umgang mit beeinträchtigten Menschen erlaubt. Wünschenswert wäre
es. Dann bliebe es mir vielleicht erspart, dass mich am Geldautomaten ein Mann um die 60 anspricht, ob ich nicht froh sei, in der heutigen Zeit zu leben, in der Behinderte auch ein Lebensrecht hätten.

Ein weiterer Magnet hat sich in den letzten Monaten herausgebildet. Ich nenne ihn mal den Blaulicht-Magneten. Vielleicht finden meine Leserinnen und Leser noch eine bessere Bezeichnung für das Phänomen, dass ich zur Zeit mindestens einmal pro Monat für jemanden einen Rettungswagen bestelle oder sogar noch umfangreicher Erste Hilfe leiste.
Oder alternativ den Trachtenverein Blauweiß Hamburg (oder das Pendant meines derzeitigen Studienortes) anrufe, weil direkt vor mir jemand ein Auto aufbricht (wie letzte Woche Dienstag), jemanden auf offener Straße verprügelt (wie letzten Samstag) oder auf der Autobahn seinen kompletten
Werkzeugkasten verteilt, der zusammen mit einem Winkelschleifer vom Anhänger rutscht, weil eine Klappe nicht geschlossen ist.

Man muss dazu erwähnen, dass ein guter Freund von mir mich diesbezüglich noch übertrifft. Sein Büro liegt an einer vierspurigen innerorts verlaufenden Bundesstraße. Ringsherum sind viele große Kaufhäuser, ein Einkaufszentrum, zwei große Krankenhäuser mit Maximalversorgung (also 24 Stunden Notaufnahme), eine große Polizeiwache, eine Feuerwache, eine lange Fußgängerzone, mehrere Supermärkte – kurzum: Jede Menge Leben. Wenn man dort einen Nachmittag über drei Stunden im Büro steht, fahren draußen mindestens zehn Fahrzeuge mit Sirene vorbei, mindestens einmal pro Tag kracht es auf irgendeiner der umliegenden Kreuzungen oder zahlreichen Fahrbahnverschwenkungen. Laut Statistik gab es auf dem einen Kilometer (800 Meter westlich und 200 Meter östlich) vor dem Büro im Jahr 2013 insgesamt 119 polizeilich aufgenommene Unfälle mit 234 beteiligten Personen. Nicht registriert sind natürlich Bagatell-Schäden, bei denen niemand die Polizei gerufen hat. Dieser Freund erzählt, dass er einmal pro Woche die Polizei oder den Rettungsdienst ruft, weil irgendwas los ist. Ob Fahrradfahrer, die über sich öffnende Autotüren stürzen oder Passanten mit Kreislaufproblemen – irgendwas ist immer. Die traurigen Highlights seien zwei Streithähne gewesen, die sich gegenseitig direkt vor seiner Tür mit Kraftstoff übergossen hätten. Erst ist der eine mit einem offenen Reservekanister auf den anderen zugelaufen und hat seine Kleidung damit bespritzt, dann hat ihm der andere das Ding aus der Hand genommen und ihm den Kraftstoff ins Gesicht geschüttet. Festnahmen auf offener Straße und wilde Verfolgungsjagden mit der Polizei seien an der Tagesordnung – seine Bürotür hat inzwischen einen Summer, den er nur noch betätigt, wenn er weiß, wer vor der Tür steht.

Ganz so schlimm ist es bei mir noch nicht. Dennoch endete meine Nacht
heute um 5.05 Uhr, als es bei mir an der Tür Sturm klingelte. Eine Neunjährige aus dem Haus nebenan hat mich kürzlich bei einem Nachbarschaftsgrillen auf der Straße kennen gelernt und mich gefragt, ob
ich noch zur Schule gehe. Ich habe ihr erzählt, dass ich studiere, was ich studiere, und meinte dann: „Das ist praktisch! Wenn du damit fertig bist, kann ich immer zu dir kommen, wenn ich mal krank bin, und muss nicht immer zu meinem Arzt, da muss man immer so weit mit dem Bus fahren
und da wartet man immer so lange.“

Dieses Mädel stand heute morgen im Schlafanzug vor meiner Tür: „Jule,
Jule, bitte komm schnell, der Papa liegt in seinem Bett und schnauft ganz komisch. Er wacht nicht mehr auf, auch nicht wenn ich rufe!“ – Ja, schon wieder. Gegen jede Statistik. Ich rollte mit nach drüben. Nach Herz oder Kreislauf sah es nicht aus, nach Atembeschwerden auch nicht, ich vermutete ein Stoffwechselproblem als Ursache für eine offensichtliche Bewusstlosigkeit. Der Rettungswagen kam, der Notarzt auch, ich kümmerte mich solange um das Mädchen. Das Mädchen durfte ins Krankenhaus mitfahren. Eingeliefert wurde er arztbegleitet mit Musik. Welches Problem er hatte, habe ich nicht erfahren, ich werde aber später
mal fragen, was los war. Damit hat eine Woche gleich mal wieder dramatisch begonnen. Und damit gibt es gute Chancen, dass der Rest der Woche entspannter verläuft.

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