Das sechste Gyrosbaguette

Zum sechsten Mal jährt sich mein Verkehrsunfall, der den Verlauf meines Lebens entscheidend geprägt hat.

Gyrosbaguette ist ein Stichwort, das nicht fehlen darf. Sollte ich eines Tages beschließen, mich nur noch vegetarisch oder gar vegan zu ernähren: Einmal im Jahr müsste ich eine Ausnahme machen. Und ja, einmal
im Jahr muss ich nach wie vor nach Wandsbek-Gartenstadt, um zu schauen, ob der Heli dort noch steht. Er stand. Er wurde gerade betankt. Ein Mann stand mit einer Videokamera am Zaun und filmte. Als er mich sah, grüßte er.

„Na, was meinst du, starten die heute nochmal?“ – „Ich weiß es nicht. Vielleicht?“ – „Ich glaube ja. So warm wie es ist, kippen bestimmt noch Leute um, die einen Arzt brauchen. Interessierst du dich für Technik?“ – „Geht so.“ – „Bist du hier stationär?“ – „Nein, ich schaue nur mal nach dem Hubschrauber.“

Mir war nicht nach dieser Art von Unterhaltung, von daher rollte ich weiter. Ob ich einfach mal zu der Wache fahre und unauffällig gucke, ob „meine“ Ärztin Dienst schiebt? Gesagt, getan. Und tatsächlich: Auf den ersten Blick war ich mir nicht sicher, auf den zweiten schon. Sie saß an einem Tisch und schrieb. Ein Mann saß daneben auf einem Stuhl, eher lässig, und gestikulierte in der Gegend herum, als ob er eine lustige Geschichte erzählte. Die Ärztin blickte hin und wieder zu ihm hin. Als ich weiter rollte, sah ich, dass noch ein weiterer Mann im Raum war. Sollte ich dort hinein und einfach mal grüßen?

Die Entscheidung wurde mir abgenommen, als der Mann, der wild gestikulierte, mich entdeckte und wohl irgendwas sagte. Die Ärztin blickte in meine Richtung. Kniff etwas die Augen zusammen und musterte mich. Ich winkte schüchtern. Sie kam nach draußen. „Sie sind doch …“, sagte sie und gab mir die Hand.

„Genau“, schluckte ich. „Die bin ich. Mein Jahrestag. Ich wollte mal ‚Hallo‘ sagen und schauen, wie es Euch geht.“ – „Das ist aber nett. Wie lange ist es jetzt her?“ – „Sechs Jahre.“ – „Sechs Jahre. Wie die Zeit vergeht. Gut sehen Sie aus. Erwachsen, so vitale Hautfarbe, klasse. Kommen Sie einen Moment zu uns rein?“ – „Gern.“

Ich wurde vorgestellt: „Das ist Jule. Polytrauma nach Schulwegsunfall. Wurde vom Auto angefahren. Sie war damals 15.“ – „Das wissen Sie noch? Ich meine, wie alt ich war?“ – „Es gibt Einsätze, die man nicht vergisst. Diesen beispielsweise werde ich nie vergessen. Einsätze mit Kindern, Jugendlichen und überhaupt sehr jungen Menschen sind immer sehr emotional. Dass jemand einen solchen Unfall überlebt, kommt auch eher selten vor. Dass er sich bei dem Ärzteteam bedankt, losen Kontakt hält, ist auch selten. Sie sind einer meiner besonderen Fälle, wenn ich das so sagen darf, und Sie werden mir in Erinnerung bleiben.“

Der anwesende Pilot deutete auf meinen Rollstuhl. „Querschnittlähmung?“ – „Zum Glück eine relativ niedrige“, nickte ich. – Der Pilot sagte: „Das ist trotzdem ätzend. Aber Sie glauben nicht, wieviele frische Querschnitte wir fliegen. Reitunfälle, Badeunfälle, Autounfälle.“

Die Ärztin sagte: „Jule ist mit ungeheurer Wucht angefahren worden. Sie konnte froh sein, dass sie in einem Stück geblieben ist, ihr Kopf verhältnismäßig wenig abgekriegt hat und dass sie ein gutes Herz und einen sportlichen Allgemeinzustand hatte. Ich war froh, als ich Sie im Krankenhaus hatte. Als ich Sie auf der Straße liegen sah, war meine Prognose, dass Sie die Klinik nicht lebend erreichen werden.“ – „Ich weiß.“

„Anderes Thema“, schlug die Ärztin vor. „Was machen Sie beruflich? Haben Sie schon Pläne?“ – „Ich studiere Medizin.“ – „Nein.“ – „Doch.“ – „Wie geil ist das denn? Das finde ich ja nun mal richtig klasse. Hier in
Hamburg?“ – „Nee, in […], ich habe gerade mein erstes klinisches Semester hinter mir, bin sehr glücklich damit, auch wenn es schon sehr anstrengend ist und man als Rollifahrerin sehr oft improvisieren und sehr flexibel sein muss.“ – „Wahnsinn, das finde ich richtig toll.“ – „Ich habe eine Freundin kennengelernt, die auch im Rolli sitzt und mit mir zusammen studiert, ihre Mutter ist auch Ärztin und unterstützt uns ideell …“

Wie es leider so ist, piepte in dem Moment ein Alarm. Der Pilot sprang auf, ich wurde mit vielen Worten rausgebeten. „Wir reden ein anderes Mal weiter! Viel Glück! Tschüss!“ – Und tschüss. Weg waren sie. Unter ohrenbetäubendem Getöse und jeder Menge Wind.

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