Stinkende Behinderte

Auch ich brauche mal Haar-Shampoo. Und was läge da näher, als in einem Supermarkt welches zu kaufen?

Ich rollte den Gang entlang, rechts von mir waren tausende Deo-Flaschen, rechts von mir waren Badezusätze, in der Mitte standen zwei Halbstarke, geschätzt auf 14 bis 15 Jahre, die jedes zweite Deo öffnen und durch die Gegend sprühen mussten. Sie fanden sich witzig. Genug Platz war vorhanden, so dass ich in größtmöglichem Bogen um die beiden herum fuhr, um möglichst schnell durch die Nebelwolke hindurch zu
kommen.

Einer der beiden lief hinter mir her und sprühte mir mit den Worten „Hey, die Behinderte stinkt“ irgendein Deo ins Gesicht. Ich war darauf nicht vorbereitet, bekam die Augen nicht schnell genug zu und konnte erstmal nichts mehr sehen. Ich stoppte. Es brannte wie Hölle. Ich nahm die Hände vor das Gesicht und beugte instinktiv meinen Oberkörper nach vorne. Bis dahin konnte man vielleicht noch davon ausgehen, dass das ein
blöder Streich war, bei dem man übermütig etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. Jetzt kam nur der zweite noch hinterher und sprühte mir auch noch irgendwas über den Kopf. Nicht für eine Sekunde oder zwei, sondern vermutlich die halbe Flasche. Ich bekam kaum noch Luft. Die beiden fanden das irre komisch und lachten sich kaputt.

Ich hatte noch immer die Hände vor den Augen. Das Öffnen der Augen war nicht möglich, es brannte nach wie vor wie Hölle. Jetzt begannen die
beiden, mich im Stuhl durch die Gegend zu schieben. Nicht langsam, sondern mit ziemlich hoher Geschwindigkeit. Einer lachte, der andere schob mich brummend vor sich her, während er bereits im Laufschritt war.
Ich musste, um nicht rauszukippen, meine Hände vom Gesicht nehmen und mich am Rahmen des Stuhls festhalten. Ich schrie wie am Spieß, er soll die Scheiße sein lassen, das sei nicht witzig. Er fand: „Doch, das ist sehr witzig, darum machen wir das ja.“ – Irgendwann gab er mir aus dem Laufen einen Stoß. Ich rollte frei durch irgendeinen Gang. Ich versuchte, meine Greifreifen zwischen die Finger zu bekommen und zu bremsen. In dem Moment, als ich die Hände vom Rahmen nahm, krachte ich auf irgendwas drauf. Es war aus Metall, es gab aber nach. Irgendein rollender Wagen. Sehen konnte ich nichts. Der Aufprall war relativ glimpflich, irgendwelches Verpackungsmaterial fiel über mich. Der Wagen rollte scheppernd irgendwo gegen, ich konnte mich soweit fangen, dass ich meinen Stuhl zum Stehen bekam. Nach wie vor brannten meine Augen, ich sah überhaupt nichts. Das Gelächter kam wieder dichter. Ich schrie in Panik um Hilfe. Ich überlegte, mich aus dem Stuhl fallen zu lassen, konnte aber nicht einschätzen, wohin ich fallen würde und ob man mich vielleicht tritt.

Ich hörte die Stimme einer alten Frau, die irgendwas mit „Rotzlöffeln“ schrie. Noch jemand kam angelaufen, ein Mann, er rief mit starkem Akzent: „Halt den mal fest, der gehört dazu, die haben hier irgendwas mit der Rollstuhlfahrerin angestellt.“ – „Lass mich los, ich stech dich ab“, hörte ich. Ich wusste überhaupt nicht, was da los war. Ich hörte aber, dass immer mehr Leute angelaufen kamen. Ich versuchte, blinzelnd was zu erkennen, sah aber nur einen weißen Schleier und es brannte weiterhin wie verrückt. Überhaupt nicht peinlich… Ein Mann legte
eine Hand auf meine Schulter: „Sind Sie verletzt? Können Sie sagen, was
passiert ist?“ – „Ja, zwei Jungs haben mir Deo ins Gesicht gesprüht und
mich mit vollem Schwung hier irgendwo gegen geschoben. Ich kann nichts sehen und das brennt wie Hölle. Aber es ist wohl nicht so schlimm, geht bestimmt gleich vorbei.“ – Der Mann brüllte durch den Laden: „Bring den Spinner mal her, der hat hier die Frau verletzt. Und ruf mal einen Krankenwagen.“

Wenigstens war die Situation wieder überschaubar. „Du setzt dich da vorne hin und machst keinen Mucks, sonst brech ich dir alle Knochen. Hast du das verstanden?“ – „Ja“, murmelte eine bekannte Stimme kleinlaut. „Hol du mal paar Wasserflaschen her für die Frau, sie soll mal ihre Augen spülen. Und ein Handtuch oder sowas. Und gleich eine große Rolle Küchenkrepp. Aber ohne Kohlensäure!“ – Irgendjemand wetzte davon. Ein älterer Mann sagte: „Dir sollte man mal ein paar vor die Fresse kloppen.“ – „Ja, gehen Sie weiter, das nützt doch jetzt nichts.“

Jemand kam angewetzt. „Hier, Wasser.“ – „Nehmen Sie mal Ihren Kopf hier zur Seite, so, und dann versuchen Sie mal, die Augen offen zu halten. Ich kippe Ihnen Wasser drüber, damit die Augen gespült werden.“ –
Die ganze Soße lief zur Hälfte in meinen Kragen und zur anderen Hälfte auf den Fußboden. Eine noch völlig unbekannte Frau kam dazu: „Was macht ihr denn hier für eine Sauerei?“ – „Bring lieber mal das Küchenkrepp, die beiden Verrückten da haben der Frau Deo in die Augen gesprüht.“ – „Die haben hier auch Hausverbot.“

Ein paar Minuten später konnte ich schon wieder sehen. Zwar immernoch
wie durch einen Schleier, aber ich konnte erkennen, was los war. Einige
Leute standen herum und glotzten. Zwei Sanitäter kamen herein und gaben
mir eine Augenspülflasche. Kurz danach kam die Polizei. Ein Typ vom Sicherheitsdienst begrüßte die beiden Beamten mit Handschlag und erzählte: „Der hier und der da haben beide bei uns Hausverbot, waren trotzdem im Laden, haben der Rollerfahrerin hier Deo in die Augen gesprüht, so dass sie nichts mehr sehen konnte, sie dann rumgeschubst und sie am Ende in den Müllwagen gelenkt. Mein Chef und ich haben die beiden anschließend gleich festgesetzt, er hier hat gedroht, mich abzustechen.“ – „So, dann ihr beide mal hier ans Regal, ich werde euch nacheinander nach Waffen durchsuchen, hat jemand von euch Waffen oder gefährliche Gegenstände in der Tasche?“ – Das angekündigte Messer war nicht vor Ort. Anschließend: „Und dann hätte ich gerne von allen Beteiligten mal die Ausweise. Und dann bestell uns schonmal einen zweiten Wagen, die beiden kommen mit auf die Wache. Geht die Geschädigte
mit ins Krankenhaus?“

Ich wollte eigentlich nicht, aber die Sanitäter machten mich auf einen bierdeckelgroßen Blutfleck zwischen Knie und Schienbein in meiner Jeans aufmerksam. Vermutlich von der Kollision mit dem Rollcontainer. Das machte mir jetzt erstmal größere Sorgen, denn die im gelähmten Bereich vorliegenden Wundheilungsstörungen machen es wahrscheinlich, dass ich mich damit noch über Monate beschäftigen würde. Ich ließ mich also in den Krankenwagen bringen, dort zerschnitt man erstmal mein Hosenbein, legte ein steriles Tuch auf die Wunde und fuhr mich in die Klinik. Dort wurde die „Platzwunde nach stumpfem Anpralltrauma“ gesäubert, ein gequetschter Wundrand versorgt und der ganze Kram immerhin genäht. Eine Augenärztin guckte sich meine Augen an, gab mir Tropfen mit, die ich in den nächsten 48 Stunden regelmäßig reinträufeln sollte. Sie meinte aber, da würde nichts nachbleiben.

Und nun? Jetzt darf ich vermutlich in einem halben Jahr zu irgendeinem Gerichtstermin, bei dem die beiden Rotzlöffel mit aller Härte verwarnt werden. Und die Staatskasse zahlt dann meine Anreise vom Studienort und die Gerichtskosten, weil die Jungs mittellos sind. Oder so ähnlich. Hurra, ich könnte mal wieder kotzen. Da gehste einmal Shampoo kaufen…

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