Das Gold von morgen

Früher, lange vor meinem Unfall, wäre es unvorstellbar für mich gewesen: Fremde Menschen ansprechen. Egal, ob sie gleichalt, älter oder jünger waren – fremde Menschen waren da, aber ich war froh, wenn ich mit ihnen nichts zu tun hatte. Es war das Unbekannte, das Unvorhergesehene, das mir Angst machte. Wenn ich den Busfahrer nach einem Fahrschein fragen sollte, war das kein großes Problem. Der saß in seiner Ecke und wechselte Geld gegen Fahrkarte. Das hatte ich bei meiner Mutter oft genug gesehen. Das habe ich irgendwann auch selbst gemacht. Das konnte ich einordnen. Genauso wie Bezahlen an der Supermarktkasse oder das Eintauschen von ein paar Cent gegen ein Rosinenbrötchen beim Bäcker. Aber wehe, wenn mich ein fremder Mann oder eine fremde Frau ansprachen und ich nicht wusste, was passiert. Dann klopfte mein Herz bis zu den Ohren.

Inzwischen ist das völlig anders. Ich lege zwar nach wie vor keinen großen Wert auf Gespräche mit fremden Menschen in der Öffentlichkeit, aber ich bitte um Hilfe, antworte auf die unsinnigen und die weniger unsinnigen Fragen zu meiner Beeinträchtigung, höre mir Geschichten an über Nachbarn, die auch nicht laufen können, und kann mich auch durchsetzen, wenn es sein muss. Und ich bin dabei völlig entspannt. Ich bilde mir sogar ein, inzwischen die Mimik und Gestik meiner Mitmenschen so gut lesen zu können, dass ich schon vor einem verbalen Dialog weiß, was gleich kommt. Also welche Story gleich an mich herangetragen wird oder ob derjenige mir hilft, wenn ich frage. Man sagt, dass viele Menschen, die wegen einer Behinderung häufig auf fremde Hilfe angewiesen
sind, mit der Zeit ein solches Gespür entwickeln. Insbesondere Menschen, die seit Geburt oder frühem Kindesalter körperlich, psychisch oder kognitiv eingeschränkt sind, haben häufig eine ausgesprochen feinfühlige Wahrnehmung der Gefühle in ihrer Umwelt.

Ich weiß nicht, ob es damit zusammen hängt oder ob ich einfach nur im richtigen Moment die richtige Frage gestellt habe. Ein Mädchen, geschätzt um die 12 Jahre alt, stand heute am frühen Morgen an einer Bushaltestelle. Oder genauer gesagt daneben. Sie guckte mit verkniffenem Gesicht in die Gegend, so, als hätte sie Schmerzen. Sie zappelte von einem Bein auf das andere, und ich dachte einen Moment lang, sie muss dringend auf die Toilette. Sie biß sich hin und wieder auf die Unterlippe, guckte suchend in die Straße, als würde sie auf irgendwen oder irgendwas warten. Vielleicht nur auf den Bus? So wie ich.

Hinter dem Haus ist ein Garagenhof. Mit einem Gebüsch. Sollte ich ihr anbieten, dass sie sich schnell ins Gebüsch hockt und ich davor stehen bleibe und aufpasse? Ich guckte ihr ins Gesicht. Ich rollte direkt zu ihr. Sie sah mich nicht. Sie war damit beschäftigt, zu suchen. In der Ferne. Sie war endlos aufgeregt. Und nein, sie musste nicht aufs Klo, da war irgendwas anderes los. Ich sprach sie an: „Alles in Ordnung bei dir?“ – Sie guckte mich an: „Hm? Jaja, alles in Ordnung.“ – Ich schaute ihr noch einmal ins Gesicht. Nein, da stimmte was nicht. Ich fragte noch
einmal: „Bist du dir sicher? Brauchst du Hilfe?“ – „Ich habe mein Portmonee mit meinem Fahrschein zu Hause vergessen und ich wollte den Busfahrer fragen, ob er mich ausnahmsweise umsonst mitnimmt. Der davor hat schon ‚Nein‘ gesagt, ich muss aber eigentlich dringend in die Schule, weil wir gleich eine Arbeit schreiben. Und zu Fuß geht nicht, das ist viel zu weit. Und nach Hause zurück geht auch nicht, meine Mutter ist schon zur Arbeit.“ – „Was kostet denn eine Fahrkarte?“ – „Zwei Euro zwanzig.“ – Dann musste sie durch mehrere Zonen, also einmal quer durch die Stadt. Ich gab ihr fünf Euro. „Für die Hinfahrt und die Rückfahrt heute mittag, okay?“

Man konnte augenblicklich die Anspannung aus ihrem Gesicht weichen sehen. Sie bedankte sich. Hoffentlich würde sie es noch schaffen, sich bis zur Arbeit wieder zu entspannen. Kaum war ich in der Uni, sprach mich ein Prof an. Sehr direkt: „Sag mal Jule, können Sie wohl mal mit einer Patientin von mir reden? Wir mussten ihr wegen Knochenkrebs das linke Bein oberhalb des Knies amputieren. Sie ist gerade in der Anschluss-Reha und nun wegen einer Komplikation wieder hier.“ – „Das kann ich machen, aber warum ich?“ – Er guckte auf meinen Rollstuhl und sagte dann: „Die Fragen, die sie hat, kann ich nicht beantworten. Zumindest nicht glaubhaft. Trauen Sie sich das zu?“

Ich verstand. Marie und ich besuchten sie noch am selben Nachmittag. Die Frau war Mitte 30. Ich will nicht sagen, dass ihr der Lebensmut fehlte. Aber sie war überfordert, alles, was sie anfinge, ging schief, meinte sie. Sie habe das Gefühl, sie sei im Leben noch nie so weit unten gewesen. Überfordert, kopflos, kalt, unter Druck, erfolglos, von einem Tag auf den nächsten lebend. Die Umwelt habe nur die Ratschläge aus der Apotheken-Umschau und den Abreißkalendern für sie, nach dem Motto: „Augen zu und durch.“ – Sie meint, es stimme ja auch, sie müsse sich einfach der Situation stellen und sei zuversichtlich, schnell wieder Halt zu finden. Sie bekomme überall Hilfe und irgendwie schaffen die anderen es auch. Sie sei ja nicht die einzige auf der Welt mit einem Bein, auch wenn sie im Moment nicht wisse, ob man mit einem Bein noch eine Frau sei. Sie wolle aber auch nicht einfach nur so ein 08/15-Leben beginnen, jetzt, wo alles besser sei als Krankenhaus.

Sie deutete auf meinen Rollstuhl. „Wie schafft man das? Wie geht man damit um?“ – Marie antwortete für mich, bevor ich was sagen konnte: „Gehört dir die Gitarre da auf dem Bett? Mir fallen spontan die Zeilen ein aus einem Lied, das ich aktuell sehr mag. Eine kaum bekannte Sängerin aus Berlin sagt: ‚Das Leben hat ne Eisenfaust. Weich du den harten Schlägen aus, Scheuklappen auf, Blick geradeaus. Blaues Auge? Brille auf.“ – Sie guckte etwas skeptisch. Marie fuhr fort: „Bau dir nen Bagger aus Geduld, leg Fantasie ins Katapult, dein Segel in den Gegenwind. Du spielst auf Zeit und Zeit gewinnt.“

Sie fragte: „Ist das so einfach?“ – Marie antwortete: „Der Refrain lautet: ‚Wenn dich das Leben wieder niederstreckt und du liegst mit dem Gesicht im Dreck, fang an zu graben. Denn dort ist es verborgen, genau da findest du das Gold von morgen.“ – Ich bin ja sonst nicht so musiktherapeutisch veranlagt. Und gesungenes Wort hört sich noch immer anders an als gesprochenes oder geschriebenes. Ich weiß nicht, wie Marie das macht, aber sie findet regelmäßig solche tollen Lieder. Ich empfehle selten eins, aber das hier … sollte man gehört haben.

Auf Deutsch: Nicht aufgeben, sondern die Situation akzeptieren. Lernen, dass man auch da was findet, wo man es gerade nach einem tiefen Fall nicht vermutet: Nämlich im Dreck. Wenn man mal etwas länger wühlt. Und dass man dort auch was findet, was einen wieder nach oben bringt. Der Blick auf das, was man nicht hat oder nicht kann, macht auf Dauer nicht glücklich. Und langfristig muss man lernen, nicht bei jeder Welle umzukippen.

Wen es interessiert: Für einen ersten Eindruck gibt es auf Youtube ein offizielles Video als Akustik-Version am Flügel. Die Studio-Version mit Orchester gefällt mir persönlich sehr viel besser.

https://www.youtube.com/watch?v=A0zZ1ySKQhc

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