Famulatur und Suizid

Das Wintersemester neigt sich dem Ende zu. Noch bis zum Ende des Monats raucht mein Kopf, dann kann ich das Tempo für rund zehn Wochen ein wenig drosseln. Insgesamt bin ich gut im Rennen. Im nächsten und übernächsten Monat werde ich vier Wochen lang in einer Kinderarztpraxis den ersten Teil meiner Famulatur ableisten. Ich freue mich schon riesig,
obwohl es sicherlich ein hartes Stück Brot wird, das ich da zu kauen habe. Die erste Erkältung seit vielen Monaten habe ich schon fest eingeplant. Und täglich morgens ganz früh mein warmes, kuscheliges Bett verlassen zu müssen, um abends völlig erschöpft wieder in selbiges zu purzeln, klingt wahrhaftig nicht nach Semesterferien.

Bis Ende 2016 werde ich auch noch zwei Monate lang in einem Krankenhaus oder einer Reha-Einrichtung ein weiteres Vollzeit-Praktikum machen müssen und für einen weiteren Monat dann noch in einer Hausarztpraxis. Somit sind die nächsten Semesterferien schon gut belegt.
Wenn alles gut läuft, bin ich im Sommer 2018 mit dem Studium fertig. Es
kann aber auch gut sein, dass sich das Ende noch um ein oder zwei Semester nach hinten verschiebt.

Mehrmals wurde ich bereits gefragt, auch und besonders in Kommentaren
zu einzelnen Postings, ob ich schon Pläne für die Zeit danach habe. Mehrmals wurde sogar sehr konkret das Stichwort „Kinderärztin“ in den Raum geworfen. Und mit Blick auf meine Wahl bei der anstehenden Famulatur sehe ich die Frage erneut auf mich zukommen, so dass ich schon
einmal vorgreife: Ich weiß es noch nicht. Ich möchte mir das absolut offen halten. Eine Weiterbildung zur Kinderärztin wird im Anschluss an das Studium weitere mindestens fünf Jahre in Anspruch nehmen. Das heißt:
Vor 2023 wäre ich damit auf keinen Fall fertig. Und das ist noch sooo lange hin, dann wäre ich bereits über 30. Nein, daran mag ich jetzt noch
nicht denken.

Zuallererst denke ich über die nächsten Wochen nach. Ob es Eltern geben wird, die mich fragen wollen, ob ein Mensch im Rollstuhl unbedingt
in einer Praxis für Kinder- und Jugendmedizin arbeiten sollte? Immerhin
könnten die Kinder ja von meinem Anblick traumatisiert werden. Die Kinder selbst sind in aller Regel sehr neugierig und interessiert. Marie
meinte schon, ich solle bei ganz doofen Eltern einfach die Kinder fragen, ob sie nicht auch so einen tollen Rollstuhl haben wollen. Ich weiß, wir sind fies.

Und ich lerne ja immer dazu. Mein heutiger Praktikumstag auf der Chirurgie (wir müssen einen Tag pro Woche praktisch ran) war mal wieder bombastisch. Patient eins und zwei waren derart schlecht gelaunt, dass ich froh war, nur zugucken zu müssen. Beim dritten Patienten im privaten
Einzelzimmer durfte ich selbst ran und sollte mich um eine Wunddrainage
kümmern. Der Mann um die 60 war relativ entspannt, ließ alles mit sich machen, musste mich dann aber beiläufig fragen, ob ich hin und wieder Suizidgedanken hätte. Und damit waren wir schlagartig und ohne besondere
Einleitung schon wieder auf jener Ebene, die ich nicht leiden kann und die mich inzwischen auch wirklich seit einigen Wochen zunehmend nervt.

Ich glaube nicht, dass er mich verletzen oder beleidigen wollte. Es war, wie wohl fast immer, einfach nur unbedacht. Aber es ist mal wieder so, dass damit jemand ungefragt in meinen persönlichen Bereich eindringt. Und es ist zusätzlich so, dass meine Kommilitoninnen so etwas
nicht gefragt werden. Soll heißen: Es liegt mal wieder ganz klar an meiner offensichtlichen körperlichen Beeinträchtigung. Und es wird assoziiert: Ich habe kein lebenswertes Leben. Oder mein Lebenswert ist zumindest deutlich herabgesetzt. Diese beschissenen Vorurteile gehen mir
inzwischen so derbe auf den Keks, dass ich ernsthaft hoffe, dass das irgendwann mal weniger wird und sich bessert mit der Zeit.

Ich lerne ja aber dazu und habe freundlich geantwortet: „Ihre Frage ist ziemlich unverschämt und die Antwort lautet: Kein Kommentar.“

Und das war genau die falsche Antwort. Er grinste und sagte: „‚Kein Kommentar‘ heißt ‚Ja‘.“ – „Nein, das heißt es nicht.“ – „Wie lange ist der Unfall her? Es war doch ein Unfall, oder? Ich gebe Ihnen mal einen guten Rat: So ein Medizinstudium eignet sich nur begrenzt dazu, die eigenen Probleme zu lösen. Als angehende Ärztin werden Sie täglich mit Patienten zu tun haben, die schwere Schicksalschläge zu verkraften haben. Da müssen Sie mit sich selbst im Reinen sein. Und das sind Sie nicht, sonst könnten Sie normal über alles reden.“

So ein …! Was redet der mir ein? Ich habe keine Suizidgedanken. Ich hatte auch nie welche, zumindest keine konkreten und schon gar nicht seit meiner Entlassung aus der stationären Rehabilitation. Sicherlich habe ich mir in der Phase nach dem Unfall Gedanken darüber gemacht, wie ein Leben mit Querschnittlähmung aussieht und auf viele Fragen keine Antworten gewusst. Sicherlich war ich in diesem Zusammenhang so verzweifelt, dass mir als einzig sicherer Ausweg aus der Situation das Ende des eigenen Lebens einfiel und ich mir Gedanken darüber gemacht habe, dass mir dabei niemand helfen, geschweige denn diese Aktion für mich umsetzen wird. Also müsste ich es selbst tun. Aber so unerträglich,
dass diese Aktion nicht noch ein wenig Zeit hatte, war es nie, auch wenn ich das Gefühl, alles um mich herum würde mich innerlich zerreißen,
furchtbar fand. Und so konkret, dass ich mir einen konkreten Plan ausgearbeitet habe, wurde es zum Glück nie.

Aber was geht ihn das bitte an? Ich schluckte die Kröte im Hals herunter und holte Luft, doch meine Anleiterin, die hinter mir stand, zog das Gespräch an sich: „Die Beurteilung, ob meine Kollegin für ihr Studium und für ihren späteren Beruf persönlich geeignet ist, steht Ihnen nicht zu. Und Sie haben hier auch keine Ratschläge zu erteilen. Ihre Frage war völlig unangemessen, und wenn Sie von mir einen Rat wollen, dann sollten Sie sich bei ihr entschuldigen.“

Ich war zum Glück fertig. Er sagte: „Ich weiß, warum sich so wenig Patienten darauf einlassen, Ihren Nachwuchs einzuarbeiten. Ich bestehe künftig auf die gebuchte und bezahlte Chefarztbehandlung. Richten Sie das Ihren Kollegen aus und schicken Sie mir Ihren Chef rein!“

Es dauerte keine halbe Stunde, da ließ mich der Chefarzt zu sich rufen und in einem fünfminütigen Gespräch wissen, dass er keine Auseinandersetzungen mit Patienten wünsche, schon gar nicht mit Privatpatienten. Es sei nicht seine Aufgabe, zwischen den Fronten zu vermitteln. Ich habe ihn dann gebeten, mir als Studentin zu helfen und mir einen Rat zu geben, wie ich künftig mit Fragen nach meiner Suizidalität umgehen soll. Er antwortete: „Dazu darf es gar nicht kommen. Sie haben den Hut auf und Sie dürfen dem Patienten gar nicht den
Raum für solche Fragen lassen. Überlegen Sie sich vorher, was Sie in dem Zimmer wollen, und dann arbeiten Sie das konsequent ab, und wenn eine Situation kommt, die ein Patient meint mit sinnlosen und intimen Fragen überbrücken zu müssen, arbeiten Sie nicht souverän und vor allem nicht stringent genug.“

Ich schluckte. Und antwortete: „Das verletzt mich gerade sehr.“ – Seine Reaktion: „Dann habe ich ja den richtigen Nerv getroffen. Sie haben ohne Frage das Zeug zu diesem Beruf, sonst hätten Sie es nicht so weit gebracht. Aber inzwischen müssen Sie so weit gekommen sein, dass Sie Regie führen und nicht der Patient. Sie dürfen nicht lange überlegen, nicht lange rumsülzen, sondern Sie machen Ihren Job. Und so lange Patienten Job und Privatleben vermischen und Sie solches Zeug fragen, ist denen Ihre Rolle nicht klar. Sie lassen die Leute zu nah an sich heran. Also treten Sie mal etwas forscher auf, fragen Sie den Patienten nach seinem Befinden und lassen Sie ihn erzählen und berichten, unterbrechen Sie ihn drei Mal mit der Ansage, dass Sie ihm gerade nochmal weh tun müssen, und sobald Ihre Fragen beantwortet sind, rollen Sie weiter zum nächsten Auftrag! Wenn er dann noch was will, wird
er sich schon bemerkbar machen. Und wenn dann solche intimen Fragen kommen, dann sagen Sie einfach, Sie seien auf der Arbeit und nicht in der Kneipe. Es bringt nämlich nichts, auf die Einsicht von Menschen zu hoffen, die meinen, solche Fragen stellen zu müssen. Wenn die bis hierher nicht kapiert haben, dass sich sowas nicht gehört und den Respekt vor Ihnen nicht haben, dann erlangen Sie den nötigen Respekt gewiss nicht durch eine entsprechende Belehrung oder durch drei verdrückte Tränen.“

Ich schluckte noch einmal. Er fuhr fort: „Ich sehe in Ihren Augen die
nächste Frage, die Sie schon gar nicht mehr stellen wollen. Und die Antwort lautet: Doch, Sie sind für die Patienten da. Sie sollen sich Zeit nehmen, Sie sollen auch mit Ihnen reden. Aber Sie erreichen eben nichts bei jenen, die gar nicht reden wollen. Und jemand, der Sie fragt,
ob Sie suizidal sind, der will nicht reden. Menschen, die reden wollen,
sind still oder reden erstmal über sich. Die öffnen Ihnen ihr Herz. Und
mit denen dürfen Sie sich, wenn Sie die Zeit dafür haben, von mir aus auch eine Stunde lang zum Quatschen in die Kantine setzen. Die anderen ändern Sie nicht. Also bleibt Ihnen nichts anderes, als sich selbst anzupassen. Ich habe davon gehört, wie der kleine Junge im Rollstuhl auf
Sie abgefahren ist. In Ihnen steckt ein wunderbares Potential. Aber das
eignet sich eben nicht für jeden Menschen“, sagte er, ging zur Tür und schmiss mich mit einem Händedruck raus.

Ich schluckte ein drittes Mal und konnte mir ein „Danke“ nicht verkneifen. Was total komisch wirken muss in Anbetracht der gehörigen Abfuhr. Aber irgendwie hatte er mir einen Spiegel vorgehalten, in den ich noch nie geblickt habe. Vielleicht hilft mir das weiter. Bestimmt sogar. Ich fragte mich, warum ich das bis heute nie so wahrgenommen habe, bin aufs Klo und habe erstmal geheult.

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