Noch eine Woche

Fiebrige Kleinkinder kann ich inzwischen nicht mehr sehen. Ich wundere mich, dass ich noch nicht krank bin. Ich rechne fest damit, dass
es mich noch erwischt. Vermutlich dann, wenn die stressigen vier Wochen
vorbei sind. Ich habe keinen Vergleich, aber meine Chefin sagt, dieses Jahr sei es besonders schlimm. Wir schleusen am Tag zwischen 70 und 100 Patienten durch (an einem Spitzentag waren es 118, normal sind zwischen 35 und 50) und 80% davon sind erkältet, 15% haben Magen-Darm und zwei, drei haben was anderes. Was anderes kann zum Beispiel sein, dass ein zwölfjähriger Junge wissen möchte, ob er Hodenkrebs hat. Das fühle sich beim Abtasten so komisch an.

Größere Dramen spielten sich jedoch ausnahmsweise mal nicht ab. Ein dreijähriges Kind musste ins Krankenhaus, weil es eine unbekannte Menge Kopfschmerztabletten gefuttert hatte (zum Glück nicht Paracetamol). Die Mutter musste erstmal zu Ende abwaschen und ist dann mit Fahrrad und Fahrradanhänger zum Kinderarzt gekommen, statt gleich einen Rettungswagen zu rufen. Meine Chefin meinte, es sei förderlich gewesen, dass die beiden unterwegs nicht noch eine Stunde Pause auf dem Spielplatz gemacht haben. Ansonsten durfte ich Windpocken und Scharlach live sehen. Und ich hatte eine 16-jährige, die von mir wissen wollte, wie sie das Daumenlutschen in den Griff bekommt. Sie könne nicht ohne Daumen oder Schnuller einschlafen.

Ich bin am Freitagnachmittag nach fünf überlangen Arbeitstagen ins Bett gefallen und bin am heute gegen 10 Uhr wieder aufgewacht. Was essen, einmal ins Bad schauen, ob die Fliesen noch an der Wand hängen, und dann habe ich mich wieder hingelegt. Und bis eben weitergeschlafen. Dabei habe ich unter der Woche nachts eigentlich normal geschlafen und fühlte mich auch fit. Man muss aber dazu sagen, dass ich um halb sechs aufstehe und selten vor halb neun zu Hause war. An zwei Tagen, an denen ich abends noch geschwommen bin (ich kann ja schließlich nicht nur rumsitzen), war es elf. Das schlaucht doch ziemlich.

Und Uschi?
Uschi redet nach wie vor nicht mit mir. Oder nur das Nötigste. Ich habe
keine Ahnung, ob die Chefin mit ihr letzte Woche nochmal geredet hat. Ich versuche, irgendwie mit Uschi klar zu kommen und bin nicht mehr nett, sondern einfach nur sachlich, nüchtern und bestimmt. So fing sie beispielsweise eine Diskussion an, als sich eine Mutter den Namen eines schleimlösenden Mittels nicht merken konnte. Die Chefin hatte ihr geraten, das in der Apotheke für ihre jugendliche Tochter zu kaufen, verordnen dürfte sie das zu Lasten der Kasse nicht. Die Mutter stand am Empfangstresen und Uschi ging nacheinander alle Heilpflanzen durch, die ihr irgendwie einfielen (Pfefferminze, Eukalyptus, Efeu, Thymian, Kamille, Holunder, Salbei), die Mutter schüttelte immer weiter den Kopf,
während niemand mehr vor oder zurück kam und sich im Flur die Leute stapelten. Die Mutter musste unbedingt den Kinderwagen ihrer gesunden Tochter mit reinbringen. Ich stand schräg hinter der Menschentraube und wollte eigentlich meinen nächsten Patienten aufrufen, aber es war kein Durchkommen. Als die Diskussion kein Ende nahm, tauchte ich halb unter dem Arm einer anderen brav wartenden Mutter durch und sagte: „Gucken Sie
doch einmal kurz in den Computer und schreiben es auf so ein gelbes Klebedings.“

Um nicht noch weiter zu verwirren, verkniff ich mir meinen Tipp: Ambroxol. Vielleicht war es ja doch was anderes. In zehn Sekunden war es
gefunden. „Ambroxol hat Frau Doktor Ihrer Tochter empfohlen. Können Sie
sich das merken?“ – Wenn es vom Sprechzimmer bis zur Garderobe schon nicht geklappt hat? – „Ich weiß nicht“, sagte die Mutter. Ich sagte: „Pappen Sie doch bitte kurz ein Klebe-Etikett auf die ohnehin ausgestellte Verordnung und notieren dort die acht Buchstaben.“ – Aber nein, Uschi druckte noch ein Privatrezept aus. Im Flur stapelten sich weitere neu herein gekommene Leute, Uschi hatte die Ruhe weg. Ich fragte: „Können Sie bitte einmal …“ – Uschi: „Moment, hier bin ich der Chef und wir sind hier gleich fertig.“ – Oarrr!

Und dann: „So, Frau XY, ganz kleinen Moment noch, Frau Doktor müsste jeden Moment wieder rauskommen, dann unterschreibt sie Ihnen das gleich.“ – Uschi grinste mich an. Mir platzte der Kragen: „Geben Sie mal
bitte her.“ – „Was wollen Sie denn damit?“ – „Sie sollen mir das rübergeben!“, patzte ich sie an. Sie gab mir das mit bösem Gesicht, zack, Unterschrift drauf, tschüss, schönen Tag. Drei Leute samt Kinderwagen raus, fünf bis zehn Wartende konnten durchgehen, ich konnte meinen nächsten Patienten aufrufen, Chaos beseitigt. So ein Blödsinn.

Kaum war der nächste Patient draußen, bleibt meine Chefin im Zimmer und schließt die Tür hinter sich. „Sag mal, hast du eben eine Verordnung
rausgegeben, ohne dass ich sie gesehen habe?“ – Nun war ich ja mal gespannt. „Ja“, sagte ich. – „Bist du komplett bescheuert?“, giftete sie
mich an und machte eine Scheibenwischergeste. – „Das war deine Patientin, sie konnte sich Ambroxol nicht merken. Uschi hat es auf ein Privatrezept gedruckt, im Flur stapelten sich die Leute und nun sollte noch abgewartet werden, bis du mit dem nächsten Patienten fertig bist, um das zu unterzeichnen. Da habe ich es halt kurzfristig selbst gemacht.“ – „Ach das war ein Privatrezept?“ – „Ja. Über Ambroxol als Saft. Uschi hatte das im Computer nachgesehen, sich mühsam durch die Listen geklickert, Preise verglichen, das auf einem Privatrezept ausgedruckt und nun wollte sie die Mutter nicht ohne Unterschrift gehen lassen. Ich hatte sie zwischenzeitlich gebeten, das doch einfach auf einen Notizzettel zu schreiben. Im Flur stapelten sich die Leute bereits
und nichts ging mehr vor oder zurück. Und bevor…“ – „Brauchst gar nicht
weiterreden. Tschuldigung, dass ich dich so angefahren habe. Ich war gerade bitter enttäuscht, denn du genießt hier Freiheiten und damit Möglichkeiten, die vor dir kein anderer Famulant hatte. Es wäre jedenfalls sehr bedauerlich, wenn du das zu Eigenmächtigkeiten ausnutzt.“ – „Das würde ich doch nie machen.“ – „Na dann ist ja gut.“

Aha? Stinkesocke genießt Freiheiten? Wie schön! Keine zwanzig Sekunden später konnte ich durch die Wand mit anhören, wie Uschi im Labor zusammengefaltet wurde: „Wenn Sie nicht aufhören, die Famulantin zu mobben, dann können Sie sich demnächst einen anderen Job suchen. Sie haben es verbockt und drucken umständlich Privatrezepte, statt das einfach auf einen Klebebutton zu schreiben, und dann schwärzen Sie auch noch die Famulantin an, weil sie Ihr Chaos mit einer Unterschrift beendet.“ – Ich konnte nicht hören, was Uschi daraufhin sagte, dafür aber meine Chefin: „Sie weiß genau, was sie darf und was nicht. Und wenn
Sie vermuten, dass sie sich nicht korrekt verhält, dann machen Sie mir eine Meldung und tröten das nicht stattdessen über drei Kollegen in der Weltgeschichte herum. Ich dulde dieses Rumgezicke in meinem Laden nicht!
Und jetzt gehen Sie wieder an Ihre Arbeit, wir haben zu tun!“

Gut gebrüllt, Löwin. Die letzte Woche werde ich irgendwie überstehen.
Zumal Uschi nur einen Tag da sein wird. Und ich weiß, was ich darf. Und
was ich will.

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