Verborgene Stärke

Ob es Spaghetti werden würden, hatte Philipp bis zuletzt offen gelassen. Maries Eifersucht hielt sich zum Glück sehr in Grenzen. Sie muss auch nicht sein, denn ich bin nicht diejenige, die für eine Beziehung alle Freundschaften aufgibt oder vernachlässigt. „Falls da irgendwo ein geschlechtsreifer Bruder rumläuft, der ebenfalls Single ist, schick ihn bitte umverzüglich zu mir“, meinte sie.

So stand ich nach einem langen Arbeitstag frisch geduscht und hungrig vor einer Einfamilienhaushälfte im Hamburger Umland und kam immerhin von der Straße bis kurz vor die Haustür. Drei Stufen davor, die Klingel wäre vielleicht mit einem langen Besenstiel zu erreichen. Aber man kann ja anrufen und entgeht damit zumindest für einen Moment lang der Gefahr, dass jemand anderes die Tür öffnet und sich beim Tragen über die Stufen
versucht.

Während ich mir überlegte, ob ich alte Schiss-Socke nicht doch noch wieder umkehren sollte und dann doch das Handy in die Hand nahm, öffnete jemand mit Schwung die Tür. Es war Philipp. „Tach!“ war sein erster Kommentar. Ich musste grinsen. Aber diese Begrüßung sollte noch nicht alles gewesen sein. Er kam die Stufen runter, umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Wow. Das fühlte sich gut an. Wir hatten zwar bereits nackt zusammen geduscht, er hatte meine Haare und meinen Oberkörper eingeseift, aber geknutscht haben wir komischerweise noch nicht. Oder uns geküsst.

„Wie machen wir das jetzt am Besten?“, fragte er mich. Ich antwortete: „Am Besten ziehe ich hier meine Schuhe aus und dann nimmst du mich packehuck.“ – „Packehuck? Ich glaube, dann stößt du dir im Flur die Rübe, so hoch ist unser Haus nicht. Ich muss schon immer fast den Kopf einziehen, wenn ich durch die Türen gehe. Geht auch ‚auf den Arm‘?“

Ging auch. Einen Arm hinter meinem Rücken, die Hand an den Oberarm, der andere Arm unter meinen Kniekehlen – und los ging es. „Fliegengewicht“, meinte er. Ich dachte mir so: „Warte mal ab, bis die Treppe enger wird und du 15 Stufen hinter dir hast. Hauptsache, wir fliegen nicht auf die Nase.“ – Aber alles klappte. Er trug mich eine schmale Treppe hoch, öffnete die Tür zu seiner Wohnküche mit einem Bein auf dem Treppenabsatz stehend und mit dem anderen Bein sanft auf die Türklinke tretend – dabei mich auf dem Arm festhaltend und nur wenig schwankend.

Der Raum war nach dem ersten Eindruck schon etwas länger nicht mehr renoviert worden. Was nicht heißt, dass es unsauber oder verwohnt war, sondern lediglich, dass der Stil eher den späten 1980er-Jahren entsprach. Die schrägen Decken waren mit inzwischen völlig dunklem Fichtenholz vertäfelt, die Wände mit weiß gestrichener Rauhfaser tapeziert. Neben dem Eingang hing das gestickte Bild eines Heißluftballons in einem Holzrahmen. Das auf den ersten Blick einzig Neue war ein großer schwarzer Boxsack. Er trug mich zu einem Einzelbett,
vermutlich Dänisches Bettenlager, Kiefernrahmen, das zu einer Art Sofa hergerichtet war und warf mich grinsend auf die weiche Matratze ab. Berührungsängste a la „kann da was zerbrechen“ hatte er auf jeden Fall schonmal nicht.

„Herzlich willkommen in meinem Fünfundzwanzig-Quadratmeter-Wohnklo“, meinte er. „Wunder dich nicht über die Ausstattung, hier hat früher mein Onkel unter der Woche gewohnt während er auf dem Bau war. Im Moment wohne ich hier, bis ich was Vernünftiges gefunden habe. Besser als bei meiner Mutter unten, da hätte ich überhaupt keine Privatsphäre.“ – „Alles gut“, sagte ich und guckte mich um. Das Bett, auf dem ich lag, hatte ein Dachfenster direkt über den Kopfkissen. Das ist bestimmt schön, solange die Sterne funkeln. Aber spätestens bei strömendem Regen würde es mich nerven. Herrje, bin ich wählerisch. „Ich hol mal eben deinen Rollstuhl.“

Einen Moment später kam er mit dem Ding auf dem Arm um die Ecke, stellte ihn mitten in den Raum, schloss die Tür hinter sich und sagte: „Der ist ganz schön leicht und sportlich. Wenn ich an den Dampfer von meinem Opa denke: Der hatte so komischen Hebelantrieb für die Arme und einen Wendekreis von geschätzt 35 Metern.“ – „Was war mit deinem Opa?“ – „Der hatte beide Beine verloren. Er starb, als ich 12 war. Er wohnte nicht in Hamburg, wir hatten kaum Kontakt.“

Ich hatte es mir auf dem Sofa bequem gemacht, lag auf dem Rücken, guckte aus dem Dachfenster. „Schönen Blick in den Himmel hat man hier“, sagte ich. Er antwortete: „Ja, wenn man nicht einschlafen kann, kann man die Sterne zählen. Oder auf Sternschnuppen warten.“ – Ich setzte mich hin. Er kletterte auf das Sofa, latschte hinter meinem Rücken vorbei, ließ sich fallen und lag nun so da wie ich vor wenigen Sekunden, während ich auf der Bettkante saß. „Würde er mich jetzt von der Bettkante stoßen?“, war mein einziger Gedanke in diesem Moment. Mein Grinsen übersah er. – „So liege ich abends immer hier“, führte er vor. Ich nahm mein rechtes Bein in die Hände, platzierte meinen Unterschenkel auf der anderen Seite seiner Beine, drückte meinen Oberkörper hoch und legte mich direkt auf ihn drauf. Bevor er was sagen konnte, stellte ich fest: „Und so schlafe ich abends am liebsten ein.“

Mein Ohr lag knapp unterhalb seines untersten Rippenbogens, meine Arme neben seinem Körper, meine Beine auf seinen. Zumindest die Oberschenkel. Er griff nach meinem Hosenbund und zog mich zehn Zentimeter höher. Dann fasste er mit seinen beiden Händen an meinen Po. Ich ließ ihn machen, gleichwohl fing mein Herz zu rasen an. Und was nun kommen würde, war klar. Nur warum musste das ausgerechnet das erste Thema sein? Ich war noch keine zehn Minuten hier. Das ist nicht fair! Er fühlte dort, fühlte erneut am Hosenbund. Er untersuchte auffällig unauffällig. Nun sag schon was! Meine Panik vor einer abweisenden Reaktion verminderte sich mit jeder Sekunde seiner Unsicherheit. Er tastete noch immer und sein Puls wurde immer schneller. In dem Moment, in dem ich fragen wollte, ob etwas nicht in Ordnung ist, sagte er sehr direkt: „Was ist das unter deiner Hose?“ – „Protection“, murmelte ich, ohne den Kopf von seiner Brust zu heben. Wahrscheinlich war es zu genuschelt, denn er fragte nach. „Protection“, wiederholte ich betont lässig.

Jetzt hatte er verstanden. „Pee protection oder poo protection?“, fragte er. Also ganz unwissend war er nicht, interessiert, direkt – eigentlich mag ich das. Auch wenn ich mir zunächst wirklich ein anderes Thema gewünscht hätte! „Pee“, murmelte ich. Und fügte hinzu: „Ist aber nur zur Sicherheit. Normalerweise ist alles dicht.“ – „Also kannst du auch ohne?“ – „Ohne ist die Regel. Nur draußen, wenn ich nicht weiß, wann und wo ein Klo ist oder wenn ich es nicht drauf ankommen lassen will, ob man einen Autositz kostengünstig reinigen kann, falls die Blase
doch mal rumspackt, gehe ich lieber auf Nummer Sicher.“ – „Ist dir das nicht peinlich?“, wollte er wissen.

„Muss es das?“, war meine verkehrte Frage. Und korrigierte sofort: „Oder besser: Ist es schlimm, wenn nicht? Es war mir früher peinlich. Heute bin ich nur noch verunsichert, wenn ich nicht weiß, wie du darauf reagieren wirst.“ – „Ich glaube, da kann man viel falsch machen.“ Sehr geschickt. – „Eigentlich bin ich nicht aus Zucker. Aber es ist schon etwas Besonderes, auf das ich lieber verzichten würde. Und weil das nicht geht, bin ich in der blöden Situation, manchmal sogar eher als mir lieb ist, erklären zu müssen oder vielleicht sogar aussortiert zu werden.“ – „Wieso denn aussortieren? Ich finde das stark.“ – „Was jetzt?“ – „Naja, dass du so deinen Weg gefunden hast. Das sieht man dir ja nicht an, im Gegensatz zum Rollstuhl. Und selbst da bist du sehr stark. Man bekommt bei dir sehr schnell das Gefühl, als wäre das völlig normal. So wie der eine lieber blaue und der andere lieber schwarze Jeans trägt.“ – „Es ist für mich normal. Das ist mein tägliches Leben. Der Rollstuhl genauso wie meine eigenwillige Blase.“ – „Ja, stark. Richtig stark. Ich sag das ja nicht häufig, aber das imponiert mir. Ich finde das sogar auf eine Art ein wenig erotisch. Deine verborgene Stärke.“

Erotisch? Bitte nicht schon wieder jemanden, der auf Behinderungen oder Inkontinenz steht. Das wäre jetzt ein echter GAU. Ich fühlte mich an meinen Ex erinnert, der genau dieselben Worte verwendet hat, bevor ich mit ihm Schluss gemacht habe: Er finde es erotisch, wenn ich dadurch Stärke zeige, dass ich Dinge beherrsche, die andere Frauen (in meinem Alter) nicht beherrschen. Wie Rollstuhl fahren und Windeln anziehen. Allerdings gab mein Ex in dem Gespräch auch zu, dass er eigentlich nicht mich, sondern nur meine Stärke begehrte.

Ich fragte genauer nach: „Eine Behinderung kann erotisch sein?“ – An seiner Antwort merkte ich schnell, dass ich zu viele krause Erfahrungen gemacht hatte. Er sagte: „Och, es gibt bestimmt auch Leute, die Behinderungen an sich erotisch finden. Es gibt sogar Leute, die Windeln erotisch finden. In der Nähe von meiner Oma gab es vor Jahren mal eine Kneipe, in der haben sich erwachsene Leute getroffen und sich in Windeln und Babysachen an die Theke gesetzt und sich von der Wirtin den Popo versohlen lassen. Ist wirklich wahr!“ – „Ich weiß, darauf bin ich schon öfter mal aufmerksam gemacht worden. Das stand sogar groß in der Zeitung.“
– „Total schräg. Aber wenn es Spaß macht… Was ich meinte, ist deine verborgene Stärke, also diese Diskrepanz zwischen der allgemeinen Wahrnehmung, Frauen im Rollstuhl sind schwach, inkontinente Menschen sind schwach, und deinem Auftreten. Das finde ich an dir sehr erotisch. Die Behinderung als solche jetzt ehrlich gesagt eher nicht so. Ich denke, die ist da, die ist okay, sie beeinflusst alles, aber sie bedarf irgendwie keiner besonderen Aufmerksamkeit. Geschweige denn einer sexuellen.“

Ich lernte auch noch seine Mutter kennen. Sie brachte die Bratpfanne.
Nicht zum Verhauen, sondern zum Braten. Es gab Bratkartoffeln mit Schinken und Ei. Und Gurke. Man könnte auch „Bauernfrühstück“ sagen. Was mir auffiel: Seine Mutter wirkte deutlich distanzierter. Sie gab mir die Hand, stellte sich vor, war dann aber so schnell wieder weg wie sie gekommen war. Auch Philipp sagte überhaupt nichts weiter, es schien, als hätten sie sich gestritten. Ich kann mich aber auch täuschen.

Wir haben gegessen, gequatscht, er hat mich irgendwann wieder die Treppe nach unten getragen und mich mit einem Kuss auf die Wange verabschiedet. Wir haben uns erneut verabredet, zum gemeinsamen Schwimmtraining. Und er will mich besuchen. In den nächsten Tagen.

Und wie geht das jetzt weiter? Ich muss sein Statement in meinem Kopf
erstmal einordnen. Ja, ich will nach wie vor was von ihm. Und er irgendwie auch. Er findet meine verborgene Stärke erotisch. Meine. Soll ich das einfach so hinnehmen, kann ich das für mich nutzen oder ist das womöglich etwas, von dem ich hoffe, dass ich darauf nicht reduziert werde? Das zu glauben, dafür ist es zu früh. Schließlich finde ich es ja toll, wenn er mich erotisch findet. Und vielleicht findet er ja noch andere Sachen an mir erotisch. Oder er wollte mir ein Kompliment machen und mir signalisieren, dass meine Beeinträchtigung okay ist, so wie sie ist. Und höchstwahrscheinlich denke ich schon wieder viel zu viel darüber nach. Und sollte es dringend bleiben lassen. Und ihn weiter kennenlernen.


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