Schnell vorbei

So schnell können vier Wochen vorbei sein. Ich kann nun stolz über mich verkünden: Selbst wenn mich jemand nachts um halb drei aus dem Tiefschlaf weckt, kann ich ihm innerhalb von acht Sekunden die fünf häufigsten Krankheiten im Kindes- und Jugendalter in Hamburg im ersten Quartal 2015 in korrekter Reihenfolge vorwärts und rückwärts wahlweise auf Deutsch oder Latein aufsagen. In den nächsten zwei Minuten bekomme ich dann auch noch die jeweilige aktuell gängige Therapie mit Rücksicht auf die Rahmenverträge der einzelnen Krankenkassen sowie die wichtigsten
Richtlinien der standardisierten Patientendokumentation und die häufigsten Gebührenziffern heruntergebrabbelt – und sollte danach noch jemand von mir wissen wollen, wie man eine Masernerkrankung korrekt an das Gesundheitsamt faxt, würde ich im Halbschlaf sogar daran denken, nachträglich auf dem Meldeformular mit dem Kugelschreiber das Kreuz bei „männlich“ oder „weiblich“ zu setzen, weil der Drucker das nie korrekt hinbekommt.

Zwei Dinge habe ich in den vier Wochen gelernt: Ich mag Kinder und Kinder mögen mich. Meistens. Und: Bürokratie ist ein Arschloch. Am meisten hat mich aufgeregt, wenn Eltern mit sieben Kindern in die Praxis
gekommen sind und neun kleine niedliche zwölfseitige Heftchen mit in die Praxis gebracht haben, herausgegeben von ihrer Krankenkasse. Darin werden Größe, Gewicht, Blutdruck, Body-Mass-Index und ähnliches Zeug abgefragt. Und eine Beurteilung verlangt, ob der Wert im Normbereich liegt oder seit der letzten Untersuchung vor mindestens zwölf Monaten deutlich weiter in den Normbereich gerückt ist. Nun definiere mal „deutlich weiter“ – die Krankenkasse zahlt pro ausgefülltem Heft irgendeine Prämie an den Versicherten. Lieb guckend: „Können Sie die Heftchen für Mama und Papa bitte auch gleich ausfüllen?“

Oder auch super: „Mein Kind ist zwölf und tanzt seit acht Jahren jede
Woche. Es soll demnächst mal an einem Wettbewerb teilnehmen. Dafür brauchen wir eine ärztliche Bescheinigung über die Sportgesundheit.“ – Und dann kommt ein Formular über drei DIN-A4-Seiten, in dem dann alles mögliche abgefragt wird. Einschließlich Ruhepuls. Wetten, dass sich mit diesem Zettel später nie wieder irgendein Arzt auseinandersetzt? Da stellt irgendeine Verwaltungskraft eine Sportlizenz aus. Und für deren Stelle werden unter Garantie keine medizinischen Vorkenntnisse vorausgesetzt. Soll heißen: Würde ich da Ruhepuls 200 reinschreiben, würde das vermutlich nicht einmal auffallen. Und selbst wenn es auffällt: Würde dann die Verwaltungskraft die Sportlizenz verweigern und
sich über die abschließende Bestätigung „Es besteht aus ärztlicher Sicht Sporttauglichkeit“ hinwegsetzen? Genau das meine ich mit Bürokratie.

„Wir gehen ein- bis zweimal pro Quartal mit dem ganzen Praxisteam essen. Möchtest du mitkommen?“, fragte mich meine Chefin. Falls ja, würde man das auf meinen letzten Tag legen. Ich fühlte mich ein wenig geehrt und überlegte, ob das wohl die Gelegenheit wäre, um Uschi noch eine letzte Gelegenheit zu geben, um Frieden zu schließen. Und ob es reichen würde, wenn ich die Getränke übernehme.

Das Essen war ganz okay. Auch wenn ich kaum dazu kam, meinen Mund zu füllen. Denn schließlich redet man nicht mit vollem Mund und Gerede wurde von mir reichlich erwartet. Es herrschte zunächst ein eher positives Interesse an der Frage, was ich später machen möchte und ob es
für mich in Frage käme, eine Praxis der ambulanten hausärztlichen (oder
auch kinderärztlichen) Versorgung zu übernehmen. Als ich erwiderte, dass ich mich noch überhaupt nicht entschieden hätte und ich auch noch gar nicht wisse, in welche Richtung eine mögliche Facharztausbildung (die im Anschluss an die Approbation noch weitere mindestens fünf Jahre dauert und eine von vielen Voraussetzungen für die Eröffnung einer eigenen Praxis ist) absolvieren möchte, guckte man mich mit großen Augen
an. Nicht von der Chefin, aber von den Mitarbeiterinnen. Uschi fragte, warum ich mich für eine Famulatur in einer Kinderarztpraxis melde, wenn ich später möglicherweise gar nicht in dem Bereich arbeiten möchte.

Und hier begann die Sache anstrengend und nervig zu werden. Die Frage
war eher mit einem vorwurfsvollen Unterton gestellt. Was mich alleine schon deshalb nervte, weil die Famulatur vorgeschrieben ist. Zwar kann man in begrenztem Umfang wählen, aber der Rahmen ist schon recht eng gesteckt. Und es gibt einfach klare Gründe, die mich möglicherweise (ich
weiß es wirklich noch nicht) davon abhalten würden, mich einmal für eine Tätigkeit als Hausärztin zu entscheiden.

Und so war der abendliche Abschlusstermin zwar oberflächlich nett und
wir haben uns auch alle freundlich voneinander verabschiedet (bis auf Uschi, die musste früh nach Hause), aber es blieb ein seltsamer Beigeschmack.

Resümierend sehe ich die letzten vier Wochen in der Kinderarztpraxis im Vergleich zu der hausärztlich ausgerichteten Praxis von Maries Mutter. Obwohl Maries Mutter jünger ist als meine momentane Chefin, war die Kinderarztpraxis straffer und moderner organisiert. Was ich gar nicht bewerten möchte. Maries Mutter erwartet von ihren Mitarbeitern, dass sie aktiv mitdenken, in der Kinderarztpraxis gibt es klare, schriftliche Handlungsanweisungen in einem Ringordner. Bei Maries Mutter
steht im Advent eine große brennende Kerze auf dem Empfangstresen, allen Feuerschutzbestimmungen zum Trotz, in der Kinderarztpraxis leuchten hypermoderne transparente Namenslogos in den Fenstern. In der Kinderarztpraxis wird für die Mittagspause extra ein Hinweiszettel frisch laminiert, mit dem Logo der Praxis am rechten Fleck und korrekt dimensioniert, bei Maries Mutter tut es im Notfall auch ein mit einem dicken Filzstift bekrakeltes Blatt Papier vom Collegeblock mit einem Streifen Klebefilm. Und während sich beim Kinderarzt zwei Flachbildfernseher mit wöchentlich wechselndem Praxis-Infotainment nahtlos in das hintergrund-beleuchtete Trockenbau-Ambiente des Wartezimmers einfügen und sanfte Klimpermusik die Wartezeit in ein unverwechselbares Entspannungserlebnis verwandelt, findet man bei Maries
Mutter neben den üblichen Illustrierten auch die Bravo und die letzte Autosportzeitschrift neben dem lokalen Tageblatt. Und wenn schon Rundfunkgebühren bezahlt werden müssen, kann da bitteschön auch Radio laufen. Maries Mutter steigt eher selbst auf einen Stuhl und dreht die flackernde Leuchtstoffröhre raus, während meine jetzige Chefin in meiner
Zeit drei Mal den Servicetechniker holte, weil es keine Wartemusik in der Telefonanlage gab. Und während in der Kinderarztpraxis um Punkt 18 Uhr der Schnapper der Eingangstür durch eine Zeitschaltuhr lahmgelegt wurde, laufen bei Maries Mutter mitunter am Sonntagabend Leute durch den
Garten, um zu schauen, ob sie jemanden beim Sonnenbad erwischen, der ihnen helfen könnte. Um genau eine Woche später einen Korb voll frischer
Äpfel vorbei zu bringen, weil das Salbenmuster tatsächlich geholfen hat.

Ansonsten gibt es aber auch viele Gemeinsamkeiten. Die Papierflut, enormer Stress, ständige Überlastung, Kostendruck und vor allem eine falsch verstandene Vollkaskomentalität vieler Patienten. Es gibt wirklich Menschen, die rennen zehn Tage hintereinander zum Arzt, egal, was man denen erzählt. Eine Erkältung dauert nunmal und geht in der Regel von selbst wieder weg. „Ich möchte, dass Sie täglich die Lunge abhören, ich kann mir eine Lungenentzündung nicht leisten.“ – Manchmal möchte man dann sagen: „Wenn Sie sich das nicht leisten können, dann bleiben Sie mit Fieber im Bett, statt bei Minusgraden im Fleece-Pullover
durch die Gegend zu rennen und sich schweißnass stundenlang neben niesende und hustende Leute ins Wartezimmer zu setzen.“ – Und drei Tage später flattert noch ein Bericht ins Haus, besagte Person hat abends um 22 Uhr nochmal den kassenärztlichen Notdienst zu sich ins Haus gerufen. Nochmal Lunge abhören.

Ich bin mir nicht sicher, ob das jetzige System der ambulanten hausärztlichen Versorgung zukunftsfähig ist. Während man inzwischen zumindest in den Großstädten bis 20, 22 oder gar bis 24 Uhr einkaufen kann, haben viele Hausärzte mittwochs und freitags um 12 Uhr zu, machen Hausbesuche. Kaum eine Praxis hat an wenigstens einem Tag bis 20 Uhr geöffnet. Aus guten Gründen. Und der Kostendruck, der bis auf das private Vermögen durchgreift, hält viele Menschen davon ab, überhaupt eine eigene Praxis in Betracht zu ziehen. Und ein Privatleben will man auch nochmal haben. Maries Mutter kommt in einer Woche auch schonmal gerne auf 70 Stunden. Das würde ich gar nicht hinkriegen. Ich Weichei. Aber noch muss ich mich – vielleicht glücklicherweise – nicht entscheiden.

Insgesamt habe ich sehr viel gelernt und ziehe trotz der nachdenklichen und kritischen Worte eine sehr positive Bilanz. Mit meiner Chefin und auch fast mit dem gesamten Team bin ich sehr gut zurecht gekommen, die Arbeit hat viel Spaß gemacht. Und: Ich bin noch immer nicht erkältet.

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