Schnucki und Blondi

Seit zwei Wochen habe ich einen neuen Arbeitsplatz. Mal wieder. Ich hoffe, dass das Vertrauensverhältnis zwischen mir und meinem neuen neuen Arbeitgeber dieses Mal länger hält. Ansonsten schrecke ich aber auch nicht davor zurück, noch ein weiteres Mal zu wechseln. Hauptgrund meiner Kündigung war, dass die bisherige Klinikleitung aus meiner Sicht nicht genug gegen einen übergriffigen Kollegen unternommen hat. Genau, jener, der gerne BHs öffnet und über Orgasmus-Faces philosophiert.

Aufgrund der Beschwerden von verschiedenen Kolleginnen und mir ist er wohl zu Jahresbeginn abgemahnt worden. Wobei ich das nicht genau weiß, sondern nur vermute. Nahezu unbeeindruckt hat er trotzdem sein Verhalten unverändert fortgesetzt. Auf meine weitere Beschwerde meinte der Chefarzt dann: „Irgendwann muss mit dem Thema aber jetzt auch mal gut sein, wir haben ja schließlich auch noch unsere Arbeit.“ – Klassischer Fall von Projektion: Das Opfer ist schuld, sobald es die Übergriffigkeit kommuniziert.

Eine Kollegin hat lange, blonde Locken. Sie hat er immer quer über den Flur „Blondi“ gerufen, wenn er was von ihr wollte, und sie gefragt, ob sich die Haare in ihrem Schlüpfer auch so locken würden – oder ob die ab seien. Davon mal abgesehen, dass ihre Zweitfrisur niemanden etwas angeht, wird es kein Zufall sein, dass er ihr ausgerechnet den Namen von Adolfs Schäferhündin gegeben hat. Von mir wollte er wissen, ob ich mittags blutiges Steak hatte oder ob meine Regelblutung wieder so aus dem Ruder läuft. Man würde das über den halben Gang riechen. Ich habe auf diese Sprüche regelmäßig nur noch mit „Halt die Fresse“ reagiert und mich dann gefragt, ob ich das noch länger möchte.

Im Personalgespräch wurde ich natürlich gefragt, warum ich wechseln möchte. Ich habe es offen angesprochen, die beiden Menschen, die mir gegenüber saßen, fragten, ob ich vor dem Problem weggelaufen sei. Meine Antwort war dieses Mal nicht, dass ich nicht laufen könne, sondern dass ich das Problem der richtigen Stelle zugeführt habe, diese aber aus meiner Sicht ihre Mittel nicht ausgeschöpft habe. Das hat ihnen ganz plötzlich gereicht. „Sie können hier anfangen“, war der nächste Satz. Ohne weiteren Kommentar. Wieder Pädiatrie, ein weiterer Anlauf auf dem Weg zum Facharzt. Bis jetzt gefällt es mir sehr gut, sehr viel besseres Team, sehr viel besseres Arbeitsklima. Auch wenn dort ebenso Personal knapp ist und insbesondere Pflegekräfte fehlen.

Marie hat inzwischen auch einen Job, hat das gleiche Ziel wie ich, ist allerdings für ein Jahr in einer Kinder-Reha-Einrichtung und ist erstmal krankgeschrieben. Das ging gleich am ersten Tag los, dass sie sich matschig fühlte. Sie fror, wollte in die Badewanne, und kaum lag sie drin, rief sie nach mir. Zum Glück habe ich das gehört. Ich rollte hin und fragte: „Na, was ist los? Quietsche-Ente vergessen?“ – Ihr Gesicht war kreidebleich. Wie eine Wand. Ich bekam eine Ein-Wort-Antwort: „Kreislauf.“

Ich tauchte meine Hand ins Wasser. Nein, zu warm war es auf keinen Fall. Ich öffnete den Abfluss und schloss den Wasserhahn. Sie guckte mich mit ängstlichem Blick an und hielt sich krampfhaft im Badewannenrand fest. „Ich glaub, ich muss spucken. Es dreht sich alles.“
– Ich rollte neben sie, beugte mich zu ihr und hielt ihren Kopf fest. Sie spuckte nicht. Stattdessen entleerte sich etwas anderes. In Mengen. „Oh pfui“, sagte Marie. Ich antwortete: „Bleib ruhig. Ich dusch dich gleich ab. Wichtiger ist erstmal, dass dein Kreislauf nicht noch weiter in den Keller geht. Kannst du dich mal eben so festhalten, dass ich deine Beine auf den Rand legen kann?“ – Füße hoch. Das eklige Wasser lief zum Glück zügig ab. Irgendwann konnte ich ihr ein Handtuch unter den Kopf legen, so dass der Kopf tief lag. Nach drei, vier Minuten wurde
es langsam besser.

Nach fünfzehn Minuten hatte ich sie endlich in ihrem Bett. Unten Pampers, oben Spuck-Eimer, nochmal Füße hoch. Sie fror und zitterte. Blutdruck 80 zu irgendwas. Kenne ich so gar nicht von ihr. Nach zehn Minuten ging der Blutdruck wieder hoch, als wäre nichts gewesen. Der Pflege-Aufwand war immens, der Zellstoffverbrauch und damit der Flüssigkeitsverlust auch. Ich will das nicht weiter ausschmücken. Vom Trinken wurde ihr übel, irgendwann habe ich ihr dann einen Zugang gelegt und ihr über den Flüssigkeit gegeben. „Wehe, du triffst die Vene nicht im ersten Anlauf“, setzte sie mich unter Druck. Ganz schlecht konnte es ihr also nicht gehen. Ich antwortete: „Noch so ein Spruch und ich nehm das Schienbein.“ – Inzwischen telefonierte sie mit ihrer Mama und redete
vom „Moorbad“ und „größten anzunehmenden Unfällen in Tüten und Papier“.

Maries Mama hatte sich nach Feierabend ins Auto gesetzt und war zu uns gekommen. Wie ich das bei mir schon kenne, zeigte sich ihr Darm von Loperamid völlig unbeeindruckt, von Codein ebenfalls, so dass wir nach dem gefühlt zehnten völlig dünnflüssigen Stuhl auf Opiumtinktur zurückgriffen. Der massive Flüssigkeitsverlust ist ja irgendwann das größte Problem. Und was genau das ausgelöst hat, wissen wir bis heute, trotz Laboruntersuchung, nicht. Aber inzwischen geht es ihr wieder besser. Und ich habe mich zum Glück nicht angesteckt, falls es ansteckend gewesen sein sollte.

Das zweite Drama, allerdings wesentlich kleiner, wurde kurz nach der Ankunft von Maries Mama von ihrer Freundin nach Hause gebracht. Ich hatte eigentlich gerade mit Marie genug zu tun, aber Helena ging es auch
nicht gut. Sie guckte mich an und ihr Blick war eine Mischung aus „ich habe was angestellt“, „ich möchte feste in den Arm genommen und nie wieder losgelassen werden“ und „bitte nicht schimpfen, ich weiß schon so, dass es blöd war“. Sie war mit ihrer besten Freundin und zwei anderen Mädchen reiten, das war so auch verabredet, sie haben auch das Gelände des Reitstalls verlassen und sind über ein paar Reitwege zum Meer geritten und wieder zurück, das war auch erlaubt. Leider sind bei Menschen mit Zerebralparese in den meisten Fällen ebenfalls Blase und Darm irgendwie betroffen, meistens nicht so ultimativ wie bei Querschnittlähmungen, aber häufig ist irgendwas nicht ganz in Ordnung. Meistens gibt es Verstopfung, das hat Helena zum Glück nicht, und meistens drückt die Blase eher plötzlich und aufdringlich.

Sie bekommt das normalerweise sehr gut hin, aber -lange Rede, kurzer Sinn- an diesem Tag nicht so richtig. Als wäre das nicht schon anstrengend genug, hat noch dieselbe Frau, die Helena auch schon abriet, ihre Psychotherapie vor den Ohren anderer zu erwähnen, ihren nassen Po gesehen und ein Fass aufgemacht, weil man angeblich Reithosen nicht waschen dürfe, die ja noch sehr neu aussehe und die Mama nun stinkesauer
sein würde. Das kam wohl so überzeugend rüber, dass Helenas beste Freundin sie nach Hause brachte, um die Verantwortung für Helenas nasse Hose zu übernehmen. Sie meinte, sie habe Helena ein paar Mal motiviert, weiterzureiten und nicht in die Büsche zu gehen, weil sie dachte, sie würden es noch bis zum Stall schaffen.

„Macht euch doch nicht so verrückt deswegen. Die Hose tun wir in die Waschmaschine und dann kann sie auf der Leine trocknen.“ – „Die Frau hat gesagt, dann geht das Leder kaputt und wird steinhart.“ – „Nein, Helena, das stimmt nicht. Ich habe meine Hosen auch schon gewaschen. Vielleicht hat die Frau welche mit echtem Lederbesatz. Die sind dann aber richtig teuer. Und selbst die kann man mit der Hand waschen. Wenn das wirklich hinterher hart ist, dann muss man das ein wenig einfetten und durchkneten. Mehr Sorgen würde ich mir um den Sattel machen, was habt ihr denn mit dem gemacht?“ – „Der hat nichts abbekommen. Das ist erst beim Absteigen passiert. Und dann wollte ich schnell zum Klo, das war besetzt, und dann wollte ich in eine Box, da kamen Leute, naja, und irgendwann war es dann völlig zu spät.“ – „Wie das immer so ist. Mach dir keinen Kopf, okay?“

„Darf [meine beste Freundin] heute bei mir schlafen? Ihre Mama hätte nichts dagegen, hat sie gesagt.“ – Es ist das erste Mal, dass eine Freundin bei Helena übernachtet. Maries Infekt machte das natürlich etwas schwieriger, aber ich wollte auch keine Spielverderberin sein. „Soll ich duschen oder in die Badewanne?“ – „Wie du möchtest.“ – „Dürfen wir auch zusammen in die Badewanne?“ – What? Ihre Freundin guckte abwechselnd Helena und mich an. Ich sagte: „Hast du sie überhaupt gefragt, ob sie das möchte?“ – „Sie möchte“, bestimmte Helena unbeeindruckt. Ihre Freundin nickte schüchtern. Helena flüsterte ihr ins Ohr: „Ich leihe dir einen Bikini von mir und dann lassen wir uns ein Schoko-Eis und ein kühles Malzbier bringen, okay?“

Ihre Freundin nickte eifrig. Ich tat so, als hätte ich das nicht gehört. Und musste schmunzeln. „Ach, und Jule?“, fragte Helena. Ich hob fragend meine Augenbrauen. „Es kann sein, dass es demnächst nochmal Ärger gibt.“ – „Habt ihr was angestellt?“ – „Nein, nein und nochmals nein“, sagte Helena. Ihre Freundin ergänzte: „Nee, echt nicht. Aber die Frau [jene oben schon erwähnte] will sich beschweren, weil wir auf dem Reitweg zu laut gesungen haben.“ – „Gesungen? Was habt ihr denn gesungen?“ – „Wir haben zu viert ‚Girls Like You‘ von Maroon 5 gesungen.“ – „Und was war daran so schlimm?“ – „Sie hat irgendwas erzählt von Besinnlichkeit im Wald“, sagte Helena.

Ich antwortete: „Ich kann mir kaum etwas Besinnlicheres vorstellen als vier hübsche Mädchen auf vier stolzen Pferden, die fröhlich singend einen sonnigen Waldweg entlang reiten.“ – „Findest du mich hübsch?“, fragte Helena. Ich antwortete: „Aber hallo!“ – Ihre Freundin fragte: „Mich auch?“ – „Ja, dich auch. Und mit der Dame werde ich demnächst mal ein paar Worte wechseln.“ – „Scheißt du sie zusammen?“ – „Was ist das denn für eine Ausdrucksweise?“ – „Ich wollte ‚ankacken‘ sagen, aber das fand ich irgendwie zu derb.“ – Helenas Freundin guckte Helena mit großen Augen an. Ich glaube nicht, dass sie sich das bei ihr zu Hause getraut hätte. Aber besser finde ich das auch nicht. Ich sagte: „Ich werde mit ihr sprechen, sie kennenlernen. Mehr nicht. Und du ziehst dir jetzt bitte die nasse Hose aus und fährst deine Kraftausdrücke ein wenig zurück!“

Schoko-Eis fand ich jetzt ein wenig unpassend. Also habe ich den beiden schnell einen Obstsalat geschnibbelt. Ein wenig Joghurt drunter gerührt. Als ich wieder aus dem Bad rollte und wieder in der Küche war, hörte ich Helenas Freundin fragen: „Warum klopft sie an?“ – Helena antwortete: „Sie klopft immer an. Auch bei mir am Zimmer.“ – „Meine Mutter platzt immer rein. Ich erschrecke mich immer voll, auch wenn ich gerade nichts gemacht habe, und dann denkt sie sofort, ich habe Geheimnisse.“ – „Das kenne ich. Meine vorige Pflegemutter ist auch immer
einfach so reingekommen. Sogar, wenn ich auf Klo saß.“ – „Nee, das macht meine nicht. Ist es nicht blöd, wenn man keine richtige Mutter hat?“

Eigentlich wollte ich das Radio einschalten, weil ich nicht lauschen möchte. Aber die Versuchung, diese eine Antwort noch zu hören, war unbeherrschbar. Helena sagte: „Ich kenne meine Mutter nicht. Ich kenne nur Pflege-Eltern und Wohnheime. Und hier möchte ich nicht wieder weg.“ – Das reichte. Eigentlich wusste ich ja schon, dass sie sich bei uns wohl fühlt. Aber hin und wieder höre ich es gerne wieder.


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