Bißchen nasty

Nach fast 40 Tipps, Ideen und anderen Kommentaren (wow) muss ich natürlich sofort über den Gutachtertermin schreiben! Oder fast sofort, denn zunächst möchte ich noch auf einige Fragen eingehen, die in diesem Zusammenhang gestellt wurden. Und noch einmal zusammenfassen.

Wir hatten ja die Verordnung für Helenas Insulinpumpe mit Kostenvoranschlag bei der Krankenkasse eingereicht, die hatte sich nicht gerührt.
Nach Ablauf von drei Wochen gilt die Leistung dann als genehmigt, wir haben sie privat beschafft und möchten nun unsere Kohle von der Kasse zurück bekommen.

In der Zwischenzeit behauptete die Krankenkasse,
sie habe den Antrag sehr wohl bearbeitet und auch bewilligt, aber mit einem sehr hohen Eigenanteil, weil die Insulinpumpe einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ersetze
und daher eine Zuzahlung anfalle. Komisch dabei: Weder wir noch der Lieferant hatte diese Bewilligung erhalten. Aber die Post ist schuldig.

Ab zum Anwalt damit. Die beantragte Akteneinsicht wurde ihm nicht gewährt. Stattdessen behauptete die Krankenkasse nun, wir hätten den Wunsch gehabt, dass die Krankenkasse dem Anwalt mitteile, dass der Lieferant behauptet hätte, wir würden die hohe Zuzahlung „aus eigener Tasche“ leisten wollen. Der Lieferant weiß davon nichts. Der Anwalt schickte ein Schreiben zur Krankenkasse, woraufhin diese Helena zu einem
Gutachtentermin einbestellte, bei dem sie unter anderem einen handgeschriebenen Lebenslauf vorlegen soll.

Dazu hatte der Anwalt signalisiert,
dass wir einen solchen Termin nicht ohne Weiteres absagen könnten. Es sei generell schwer, sich dagegen zu wehren. Gleichzeitig hatte Maries Mama angeboten, Helena zu begleiten, falls es wirklich zu dem Termin kommen sollte. Für Marie und mich war eigentlich klar: Das, was die Kasse verlangt, ist überzogen und bringt auch nichts. Von Schikane möchte ich nicht schreiben, weil ich niemandem so etwas unterstellen möchte, aber ein Geschmäckle hat es allemal.

Problem ist: Der Anwalt arbeitet nicht für den Satz, den die Prozesskostenhilfe zahlen würde. Hinzu kommt, dass wir ja noch nicht einmal in einem Widerspruchs- oder Klageverfahren sind, sondern immernoch im Antragsverfahren. Wenn ich das mit meinem wenigen Rechtsverständnis richtig sehe.

Am Montagabend bin ich mit meinem Rennbike unterwegs gewesen, rund eine Stunde, bin anschließend völlig verregnet, vermatscht und unterkühlt wieder zurück gekommen, sah also aus wie ein Wildschwein nach
erfolgloser Trüffelsuche, bin vor Kälte zitternd erstmal unter die warme Dusche, um den nach dem Entkleiden auf Haut und in Haaren verbliebenen Dreck abzuspülen, und anschließend in die heiße Badewanne.

Ich liege kaum fünf Minuten drin, da klopft es zaghaft und vorsichtig
an der Tür. Helena guckt um die Ecke, ich lege meinen Kopf schief, sie versteht die Geste als Einladung und kommt rein. Hat in jeder Hand eine geöffnete Flasche Malzbier aus dem Kühlschrank. Stellt sie vor der Badewanne auf die Erde und steigt im selben Moment zu mir in die Badewanne. Mit Flauschsocken, Leggings und Top, setzt sich zwischen meine Beine, lehnt sich an mich an, nimmt sich eine Flasche, drückt die andere mir in die Hand und stößt mit mir flaschenklirrend an. „Prost!“, sagt sie und grinst.

„Gibt es was zu feiern?“, frage ich. Sie antwortet: „Jo, 48 von 48 Punkten in der Mathe-Arbeit. Ich habe zehn Mal nachgerechnet, weil ich das nicht glauben wollte. Aber ich habe alle Lösungen richtig und die beste Arbeit der Klasse. Die nächste Arbeit hatte nur 45 Punkte und es gibt vier Leute, die unter zehn Punkte haben. Frau [Lehrerin] hat es vor
der ganzen Klasse erwähnt und ich wäre vor Peinlichkeit am liebsten im Erdboden versunken. Ich wusste, dass die Arbeit gut wird, ich habe ja auch viel geübt, aber dass alles richtig ist, hätte ich nicht vermutet.“

Ich weiß, dass es sehr unterschiedliche Meinungen zu dem Thema gibt, aber ich halte es bei solchen herausragenden Leistungen dennoch für angemessen: „Für so ein tolles Ergebnis hast du dir eine Belohnung verdient.“ – „Krieg ich, was ich möchte?“ – „Wenn es nicht zu teuer ist.“ – „Jule, ich möchte, dass weder du noch Marie irgendeinen Kommentar zu meiner Englisch-Arbeit macht, die wir heute auch zurück bekommen haben.“ – „Oh nee, so blöd?“ – „Richtig blöd. Ne glatte Fünf. Okay? Mittendrin. Keine Fast-Vierminus, auch kein Rechenfehler von der Lehrerin, sondern ich habe das höchstpersönlich voll verkackt. Mit Anlauf.“

Sie prostete mir erneut mit ihrem Getränk zu, so dass die Flaschen noch einmal gegeneinander klirrten. Sie sagte: „Ich möchte, dass du es einfach unterschreibst und dann will ich darüber nicht mehr reden.“ – Ich antwortete: „Es ist okay.“ – Bevor ich noch mehr sagen konnte, unterbrach sie mich: „Und auch kein pädagogisches Gesabbel jetzt, Jule. Ich habs verkackt, ich ärgere mich darüber, und ich verspreche dir, dass
ich mit [meiner besten Freundin] zusammen lernen werde, damit die nächste Arbeit besser wird.“ – „Darf ich dir ein Angebot machen?“ – „Ja.
Eins.“ – „Okay. Wenn du Nachhilfe haben möchtest, sagst du mir Bescheid? Und wenn du möchtest, dass ich mit deiner Lehrerin spreche, mache ich das auch.“ – „Jule? Das sind zwei Angebote. Früher hätte ich übrigens gelogen, wenn mich jemand nach der Arbeit gefragt hätte. Ich wollte es nur mal erwähnen.“

Ich brauche ganz viel Lob und Anerkennung. Ich zog Helena zu mir heran und umarmte sie. „Das ist mir sehr bewusst, Helena. Aber ich glaube, du weißt inzwischen auch, dass es ohne zu lügen viel besser geht.“ – „Also es ist nicht einfacher, aber es fühlt sich besser an. Und
ich möchte, dass du und Marie mir eines Tages auch die abenteuerlichste
Geschichte glaubt ohne zu zweifeln.“ – „Das tun wir, Helena.“ – „Ja, aber ich möchte, dass das so bleibt.“ – „Du darfst dir für die Eins aber
noch etwas anderes hinzu wünschen.“ – „Nö. Zwei Belohnungen habe ich mir nicht verdient. Und diese eine ist mir wichtig. Sag es bitte auch Marie.“ – Ich bin so verliebt in sie. Und Marie ist es auch.

Plötzlich guckte sie mich mit großen Augen, starrem Blick und versteinerter Miene an. Fünf Sekunden, zehn Sekunden, fünfzehn Sekunden.
Ich wusste es nicht einzuordnen. Wollte sie mir in die Augen schauen? Hatte sie irgendwas? Gäbe es einen entsprechenden neurologischen Befund,
hätte ich es vom Bild her auch für eine epileptische Absence halten können. Ich strich ihr über die Schulter: „Was ist? Alles okay?“ – Schlagartig drehte sie ihren Kopf wieder mit Blick nach vorne, lehnte ihre Wange wieder gegen meine, hielt mit ihrer Hand meine fest und sagte: „Alles gut. Ich hab nur geträumt. Darf ich pischen?“

What?! „Nee, Helena. Da drüben ist ein Klo.“ – „Dann wird aber alles nass auf dem Fußboden.“ – „Du kannst ja vorher deine Klamotten ausziehen.“ – „Ach komm. Das Malzbier treibt. Außerdem machst du das auch ab und zu. Und darüber reg ich mich auch nicht auf. Oder?“ – „Es ist ein Unterschied, ob man seine Blase nicht kontrollieren kann, oder ob man das mutwillig macht.“ – „Hätte ich nicht gefragt, hättest du es gar nicht gemerkt.“ – „Du hast aber gefragt. Und wenn ich an Weihnachten
erinnern darf … da fandest du es ganz räudig, dich auf meinen Schoß zu setzen.“ – „Das ist aber auch ein Unterschied, direkt auf den Schoß setzen oder verdünnt. Das ist wie homo … dings … hier … du weißt schon, Frau Doktor. Globuli.“ – „Homöopathie.“ – „Sag ich doch.“

„Marie und ich haben entschieden, dass wir mit dir nicht zu dem Gutachter gehen werden.“ – „Muss ich meine Pumpe wieder abgeben?“, fragte sie mich, guckte mich entsetzt an und kämpfte sofort mit den Tränen. Ich antwortete: „Nein! Versprochen. Die darfst du behalten. Wir müssen uns nur weiter mit der Krankenkasse streiten, wer sie bezahlt. Beziehungsweise unser Anwalt darf sich für uns mit denen streiten. Wir alle sehen nur nicht, was der Gutachter feststellen soll, und solange wir das nicht wissen, gehst du an dem Tag zur Schule.“

„Ich könnte ihm die Pumpe aber doch vorführen. Schließlich bin ich inzwischen auch eine kleine Expertin darin, oder?“ – „Das bist du, aber ich glaube nicht, dass er das wirklich wissen will. Sondern Marie und ich und auch [Maries Mama] haben das Gefühl, dass es nur darum geht, einen Grund zu finden, warum es eben nicht bezahlt werden soll. Und sie wollen uns indirekt dazu bringen, dass wir anerkennen, dass die Genehmigungsfiktion nicht greift.“ – „Was für ein Ding?“ – „Genehmigungsfiktion. Wir sagen ja, die Kasse hat nicht rechtzeitig entschieden und deswegen muss sie die Pumpe bezahlen. Wenn wir jetzt zum
Gutachter gehen, geben wir ja indirekt zu, dass wir uns doch nicht so ganz sicher sind, ob sie rechtzeitig entschieden haben. Weil: Wenn sie eindeutig nicht rechtzeitig entschieden hätte, müssten wir ja auch nicht
zum Gutachter, weil dann ja eh alles klar ist.“ – „Versteh ich nicht. Aber das ist doch dann eine fiese Nummer, oder?“ – „Ja. Aber das ist nichts, worüber du dir einen Kopf machen musst. Fakt ist: Nix Gutachter.“

Marie kam ins Bad. „Ach hier seid ihr. Was macht ihr? Schmusestunde?“
– „Wir haben auf meine Eins in Mathe angestoßen, ich habe mir meine Kraul-Einheit abgeholt und aus Versehen in die Wanne gepischt.“ – Ich guckte sie entsetzt an. Diese Kröte! Hatte ich eben noch von Verliebtheit geschrieben? Ich überlege es mir nochmal. Helena lachte: „Jule regt sich gleich voll auf, dabei macht sie das selbst auch.“ – „Och Helena, du bist ein Ferkel.“ – „Nee, Ferkel war ich Weihnachten. Das hier war doch nur ein bißchen nasty.“

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