Allgemein

Ihre Zukunft

Noch aufregender hätte es nicht mehr sein können. Helena war am Ende so nervös, dass sie ohne Jacke und ohne Schuhe losgehen wollte. Gestern abend fragte sie immer wieder, was passieren würde, wenn sich das Jugendamt gegen unser weiteres Zusammenleben entscheidet. Und was sie am besten sagen soll, und was lieber nicht. Und ob das nicht alles schnell vorbei gehen könnte. Und ob ich nicht doch schon etwas wissen würde. Oder Marie. Wann wir losfahren würden, ob das nicht zu knapp sei, weil es ja einen Stau geben könnte. Und ob ich eine Ahnung davon hätte, was alles gefragt werden… Weiterlesen »Ihre Zukunft

Aufräumen, Anfall

Am Freitag muss ich unters Messer. Na gut, Messer ist übertrieben. Aber geschnibbelt wird schon. Oder vielleicht auch nur gestanzt. Unter meinem Fuß habe ich einen Pigmentnävus, also einen Leberfleck, den meine Hautärztin gerne entfernen möchte. Genauer genommen sind es zwei in einem, von denen einer asymmetrisch und in seiner Begrenzung unscharf ist. Für mich ist das unter dem Fuß weniger ein kosmetisches Problem, sondern ein gravierendes, was die Heilung der Wunde angeht. Da meine Füße weniger durchblutet sind und kaum bewegt werden, wird der Heilungsprozess wohl keine 10 bis 14 Tage, sondern eher zwei Monate dauern. Aber was sein… Weiterlesen »Aufräumen, Anfall

Nass und rot

Für den kommenden Donnerstagmorgen lädt uns das Jugendamt zu einem Gespräch ein. Wir werden gebeten, Helena dafür aus der Schule zu nehmen. Ich gehe davon aus, dass man uns spätestens dann sagen wird, ob Helena bei uns bleiben darf. Ich muss gestehen, dass ich schon jetzt extrem nervös bin. Ich hoffe, dass alles gut wird. Bitte drückt uns die Daumen! Wir kommen inzwischen wirklich sehr gut miteinander zurecht. Wenn ich zurückdenke an ihre ersten Tage bei uns, hat sie sich wirklich sehr positiv verändert. Sollte sie nicht bei uns bleiben können, dürfte sie uns vermutlich immer wieder besuchen. Aber es… Weiterlesen »Nass und rot

Nudelsuppe

Ich bin derzeit Fan von ‚in medias res‘, und so schreibe ich nicht von einem stressigen Frühdienst mit mal wieder unterbesetzter Schicht, kranken Kindern und Jugendlichen und einer aus Kapazitätsgründen irgendwie kaum stattfindenden Facharztausbildung, sondern von einem 16 Jahre alten Jungen, der in Bauchlage vor mir auf dem Tisch liegt und am oberen Rücken einen 14 Zentimeter langen Schnitt hat, den er sich angeblich beim Herumtollen in der Küche selbst zugezogen haben soll, nachdem er nackt (!) auf das zuvor hinabgeworfene Messer gefallen sei. Ich muss keine Rechtsmedizinerin sein, um zu wissen, dass das so nicht stimmen kann. Wenn jemand… Weiterlesen »Nudelsuppe

Kampf-Lesbe

Im Jahr 2018 werden junge Schüler gefragt, wie eine Familie entsteht. Laut dem inzwischen vorliegenden Lösungsmuster gibt es die volle Punktzahl bei: „Ein Mann heiratet eine Frau und zeugt ein Kind mit ihr.“ Ich finde, dass nicht nur die Schüler Fehler machen dürfen. Ich hätte es stark gefunden, wenn die Lehrerin, die nicht mehr die Jüngste ist, etwas nachliest und sich eingesteht, dass ein großes Stück gesellschaftliche Entwicklung unbemerkt an ihr vorbei gezogen ist. Sie war in einem Trott, hat jedes Jahr dieselben Tests geschrieben, ist vielleicht schon lange ausgebrannt … keine Ahnung. Da mit ihr nicht zu reden war… Weiterlesen »Kampf-Lesbe

Rapunzeln

Unsere konzeptionelle Bewerbung für Helena haben wir Mitte dieses Monats offiziell eingereicht. Die formellen Voraussetzungen erfüllen wir, das örtliche Jugendamt hat keine Bedenken, Maries Eltern haben schriftlich zugesagt, uns bei Bedarf zu unterstützen, in der Schule und der anschließenden Tagesbetreuung gibt es keine nennenswerten Probleme, der Vormund ist „grundsätzlich einverstanden“, lässt sich aber von der fachlichen Einschätzung des derzeit betreuenden Jugendamtes leiten. Wir drei wollen nach wie vor unbedingt. Einige Menschen um uns herum sind vorsichtig optimistisch, dass das klappen wird, andere behaupten sogar, dass die das nicht mehr ablehnen können … wir sind gespannt und hoffen, dass die Entscheidung… Weiterlesen »Rapunzeln

Ganz viel Müll

Paula und ich sind am letzten Freitag rechtzeitig um 4.30 Uhr bei mir losgefahren, um Emma vom Bahnhof abzuholen. Sie hatte einen Nachtzug genommen und wir hatten vereinbart, uns um 7 Uhr morgens am bisherigen Wohnort unseres verstorbenen Vaters zu treffen. Weil noch kein Berufsverkehr war, hoffte ich, mit zweieinhalb Stunden für die rund 300 Kilometer auszukommen. Da es fast nur Autobahn war, müsste es funktionieren. Eine Baustelle kam nach der nächsten, kaum fuhren wir mal 120 km/h, wurden wir auch schon wieder auf Tempo 80 oder sogar nur 60 km/h ausgebremst. Schon für die ersten 100 Kilometer brauchten wir… Weiterlesen »Ganz viel Müll

Wilde Maus

Ganz lange – drei Jahre, um genau zu sein – war ich nicht mehr auf dem Hamburger Dom. Nee, das ist keine mit dem Rollstuhl erklimmbare Aussichtsplattform auf einer besonders großen oder besonders hübschen Kathedrale der Hansestadt, sondern ein Volksfest unweit der legendären Reeperbahn mit über 200 Schaustellern und mehr als 100 Gastronomiebetrieben. Über 10 Millionen Besucher zählt die Veranstaltung jedes Jahr. Den Namen hat sie aufgrund ihres ursprünglichen Veranstaltungsortes, dem ehemaligen Hamburger Mariendom, der um 1800 abgerissen wurde. Man könnte vielleicht erwarten, dass mir kurz nach dem Tod meines Vaters der Sinn nicht nach Kirmes steht. Und trotzdem waren… Weiterlesen »Wilde Maus

Selbsternannter Alles

Da könnte man mal einen Tag ausschlafen. Einen Tag seit langer Zeit. Marie hat sich um Helena gekümmert, Helena war in der Schule und um halb neun bimmelte es an der Haustür. Einmal, zweimal, dreimal. Helena ist krank und sie hat ihren Haustürschlüssel vergessen? Nee, ein osteuropäischer Mensch stand vor der Tür und bat um Spenden. War angetrunken und erklärte: „Ich bin selbsternannter internationaler Menschenrechtler und selbsternannter Alles. Sie müssen mir Geld geben.“ Dann allerdings gerieten seine Gedanken aus der Spur: „Was hast du gemacht, sitzen im Rollstuhl. Unfall gehabt?“ – „Hören Sie, ich möchte nicht, dass Sie hier klingeln.… Weiterlesen »Selbsternannter Alles

Achtzig und mehr

Wenn mich am Morgen nach zwölf Stunden Stationsdienst und weiteren zwölf Stunden Bereitschaftsdienst, in denen ich keine halbe Stunde gelegen habe, jemand fragt, ob ich die nächste Zwölf-Stunden-Schicht auch noch übernehmen könnte, weil so viele Leute krank sind, und ich dann ablehne und dann mir noch blöde Kommentare anhören muss, dann ist ein Zeitpunkt gekommen, wo ich mich – vorbei an allen Strukturen und ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten – beim obersten Chef melden muss. Er sei ja immer für mich da, hat er mir an meinem ersten Tag gesagt. „Dann werde ich ihn mal beim Wort nehmen“, dachte ich mir… Weiterlesen »Achtzig und mehr