Helena

Rundumschlag

Sehr lange haben wir gewartet, noch viel länger musste Helena darauf warten, dass sie nun endlich mal die Therapie bekommt, die hinsichtlich ihrer Einschränkungen dem hiesigen Standard entspricht. DafĂĽr geht es jetzt aber hoffentlich umso schneller. Wir wollen Fortschritte. Wir haben lange abgewogen, ob es sinnvoll ist, Helena bei Maries Mutter in die hausärztliche Behandlung zu geben. Es sprechen einige Dinge dagegen, insbesondere ist Maries Mutter keine Pädiaterin (also keine Kinderärztin), sie ist persönlich betroffen, und damit besteht immer die Gefahr, dass man ihr fehlende Objektivität unterstellt; andererseits verstehen die beiden sich prächtig und Maries Mutter labert nicht lange um… Weiterlesen »Rundumschlag

Ihre Zukunft

Noch aufregender hätte es nicht mehr sein können. Helena war am Ende so nervös, dass sie ohne Jacke und ohne Schuhe losgehen wollte. Gestern abend fragte sie immer wieder, was passieren wĂĽrde, wenn sich das Jugendamt gegen unser weiteres Zusammenleben entscheidet. Und was sie am besten sagen soll, und was lieber nicht. Und ob das nicht alles schnell vorbei gehen könnte. Und ob ich nicht doch schon etwas wissen wĂĽrde. Oder Marie. Wann wir losfahren wĂĽrden, ob das nicht zu knapp sei, weil es ja einen Stau geben könnte. Und ob ich eine Ahnung davon hätte, was alles gefragt werden… Weiterlesen »Ihre Zukunft

Nass und rot

FĂĽr den kommenden Donnerstagmorgen lädt uns das Jugendamt zu einem Gespräch ein. Wir werden gebeten, Helena dafĂĽr aus der Schule zu nehmen. Ich gehe davon aus, dass man uns spätestens dann sagen wird, ob Helena bei uns bleiben darf. Ich muss gestehen, dass ich schon jetzt extrem nervös bin. Ich hoffe, dass alles gut wird. Bitte drĂĽckt uns die Daumen! Wir kommen inzwischen wirklich sehr gut miteinander zurecht. Wenn ich zurĂĽckdenke an ihre ersten Tage bei uns, hat sie sich wirklich sehr positiv verändert. Sollte sie nicht bei uns bleiben können, dĂĽrfte sie uns vermutlich immer wieder besuchen. Aber es… Weiterlesen »Nass und rot

Kampf-Lesbe

Im Jahr 2018 werden junge SchĂĽler gefragt, wie eine Familie entsteht. Laut dem inzwischen vorliegenden Lösungsmuster gibt es die volle Punktzahl bei: „Ein Mann heiratet eine Frau und zeugt ein Kind mit ihr.“ Ich finde, dass nicht nur die SchĂĽler Fehler machen dĂĽrfen. Ich hätte es stark gefunden, wenn die Lehrerin, die nicht mehr die JĂĽngste ist, etwas nachliest und sich eingesteht, dass ein groĂźes StĂĽck gesellschaftliche Entwicklung unbemerkt an ihr vorbei gezogen ist. Sie war in einem Trott, hat jedes Jahr dieselben Tests geschrieben, ist vielleicht schon lange ausgebrannt … keine Ahnung. Da mit ihr nicht zu reden war… Weiterlesen »Kampf-Lesbe

Rapunzeln

Unsere konzeptionelle Bewerbung fĂĽr Helena haben wir Mitte dieses Monats offiziell eingereicht. Die formellen Voraussetzungen erfĂĽllen wir, das örtliche Jugendamt hat keine Bedenken, Maries Eltern haben schriftlich zugesagt, uns bei Bedarf zu unterstĂĽtzen, in der Schule und der anschlieĂźenden Tagesbetreuung gibt es keine nennenswerten Probleme, der Vormund ist „grundsätzlich einverstanden“, lässt sich aber von der fachlichen Einschätzung des derzeit betreuenden Jugendamtes leiten. Wir drei wollen nach wie vor unbedingt. Einige Menschen um uns herum sind vorsichtig optimistisch, dass das klappen wird, andere behaupten sogar, dass die das nicht mehr ablehnen können … wir sind gespannt und hoffen, dass die Entscheidung… Weiterlesen »Rapunzeln

Ganz viel MĂĽll

Paula und ich sind am letzten Freitag rechtzeitig um 4.30 Uhr bei mir losgefahren, um Emma vom Bahnhof abzuholen. Sie hatte einen Nachtzug genommen und wir hatten vereinbart, uns um 7 Uhr morgens am bisherigen Wohnort unseres verstorbenen Vaters zu treffen. Weil noch kein Berufsverkehr war, hoffte ich, mit zweieinhalb Stunden fĂĽr die rund 300 Kilometer auszukommen. Da es fast nur Autobahn war, mĂĽsste es funktionieren. Eine Baustelle kam nach der nächsten, kaum fuhren wir mal 120 km/h, wurden wir auch schon wieder auf Tempo 80 oder sogar nur 60 km/h ausgebremst. Schon fĂĽr die ersten 100 Kilometer brauchten wir… Weiterlesen »Ganz viel MĂĽll

Wilde Maus

Ganz lange – drei Jahre, um genau zu sein – war ich nicht mehr auf dem Hamburger Dom. Nee, das ist keine mit dem Rollstuhl erklimmbare Aussichtsplattform auf einer besonders groĂźen oder besonders hĂĽbschen Kathedrale der Hansestadt, sondern ein Volksfest unweit der legendären Reeperbahn mit ĂĽber 200 Schaustellern und mehr als 100 Gastronomiebetrieben. Ăśber 10 Millionen Besucher zählt die Veranstaltung jedes Jahr. Den Namen hat sie aufgrund ihres ursprĂĽnglichen Veranstaltungsortes, dem ehemaligen Hamburger Mariendom, der um 1800 abgerissen wurde. Man könnte vielleicht erwarten, dass mir kurz nach dem Tod meines Vaters der Sinn nicht nach Kirmes steht. Und trotzdem waren… Weiterlesen »Wilde Maus

Selbsternannter Alles

Da könnte man mal einen Tag ausschlafen. Einen Tag seit langer Zeit. Marie hat sich um Helena gekĂĽmmert, Helena war in der Schule und um halb neun bimmelte es an der HaustĂĽr. Einmal, zweimal, dreimal. Helena ist krank und sie hat ihren HaustĂĽrschlĂĽssel vergessen? Nee, ein osteuropäischer Mensch stand vor der TĂĽr und bat um Spenden. War angetrunken und erklärte: „Ich bin selbsternannter internationaler Menschenrechtler und selbsternannter Alles. Sie mĂĽssen mir Geld geben.“ Dann allerdings gerieten seine Gedanken aus der Spur: „Was hast du gemacht, sitzen im Rollstuhl. Unfall gehabt?“ – „Hören Sie, ich möchte nicht, dass Sie hier klingeln.… Weiterlesen »Selbsternannter Alles

Arbeiten, saunieren, reiten

Oh, ich darf mal atmen. Zwischendurch. Nur ein wenig. Nur ganz flach. Durchatmen wĂĽrde ich ja gar nicht verlangen. Das wird sowieso ĂĽberbewertet. Zum ersten Mal seit vier Wochen habe ich mal zwei Tage am StĂĽck frei. In meiner Klinik steppt der Bär, die ohnehin schon dĂĽnne Personaldecke ist, als die erste Atemwegs-Infekt-Herbstwelle sie aufschĂĽttelte, zerbröselt. Wie ein alter, staubiger Lumpen, der fĂĽnfzig Jahre auf dem Dachboden in der Sonne lag. Eigentlich mache ich eine Facharzt-Ausbildung, eigentlich habe ich keine Erfahrung, aber wenn ein ebenso frischer Kollege und ich nicht mehrere 24-Stunden-Schichten hingelegt hätten, hätten sie den Laden wohl schlieĂźen… Weiterlesen »Arbeiten, saunieren, reiten

Gewissen

Helena ist wieder da. Angeblich gab es nicht genĂĽgend Personal, um ihre RĂĽckfahrt zu organisieren oder durchzufĂĽhren. Und das Handy hat man ihr am ersten Tag abgenommen, weil beim Probewohnen und in den ersten vier Wochen generell kein Handy erlaubt sei. Helena ist Marie und mir um den Hals gefallen, als sie wieder da war, konnte es nicht abwarten, endlich (verspätet) in die Schule zu kommen, und fand das Wochenende schrecklich. Die anderen Jugendlichen seien einzeln ganz okay gewesen, aber ein völlig kaltes, rechthaberisches Klima, in dem es nur darum geht, der Coolste zu sein, herrschte in der Gruppe vor.… Weiterlesen »Gewissen