Behörden und Vorschriften

Auf meinen Beitrag „Acht zu Eins“ gab es einen Kommentar mit einem Link auf eine Berliner Tageszeitung, dass in Berlin in so genannten „Pflege-WGs“ häufig katastrophale Zustände herrschten, sich diese Organisationen, die überwiegend ältere und demente Leute betreuen, im rechtsfreien Raum befänden und dringender Handlungsbedarf bestünde. Ich kann dazu nur wenig sagen, weil ich nicht weiß, was in Berlin oder in solchen Pflege-WGs so abgeht. Ich kann mir aber inzwischen einiges vorstellen.

In dem Artikel hatten Politiker gefordert, solche Wohngemeinschaften regelmäßig kontrollieren zu dürfen. Ich habe auch dazu keine besonders gereifte Meinung, weil ich mich damit noch nie wirklich auseinandersetzen musste. Ich kann dazu aber sagen: Solche pauschalen Kontrollen, nur weil man Pflege oder Assistenz bekommt, würde ich hier nicht haben wollen. Viele Pflegefehler sieht man erst, wenn der Betroffene sich nackt auszieht (Stichwort: Druckgeschwüre durch Lagerungsfehler). Gegen meinen Willen soll mich mal einer anpacken und mir die Hose runterziehen… ich glaube, da müsste man mich schon vorher sedieren und fixieren. Hinterher steht dann in einer öffentlichen Akte: „Durch Inaugenscheinnahme wurde überzeugend festgestellt, dass der in der Unterhose eingenähte Name mit dem der Bewohnerin und die außen angebrachte Beschriftung (Montag) mit dem Wochentag übereinstimmte.“ – Oder so ähnlich.

In Hamburg gibt es bereits ein solches Gesetz, das so genannte Wohn- und Betreuungsqualitätsgesetz, das für Wohngruppen gilt, sobald mindestens drei Bewohner mehrmals täglich (interne oder externe) Pflege-
oder Assistenzleistungen in Anspruch nehmen und diesen Bedarf auch durchschnittlich mindestens einmal nachts haben.

Die Vorschriften für diese Wohngruppen beinhalten im wesentlichen eine Meldeauflage: Es muss der Sozialbehörde mitgeteilt werden, wer mit wem wo eine WG gründet, Personen welcher Zielgruppe aufgenommen werden und welche Klauseln im Mietvertrag sind (Musterexemplar). Alles weitere liegt im Ermessen der Behörde.

Das Gesetz ist aber sehr schwammig: Leben, wie in unserem Fall, 21 Leute auf drei Etagen verteilt, ist es von verschiedenen Faktoren abhängig, ob es sich um eine oder um drei WGs handelt. Wenn auf jeder Etage dieselben Gemeinschaftsräume sind, sind es drei WGs. Gäbe es nur eine Küche oder nur einen Gruppenraum für alle drei Etagen, wäre es eine WG.

Und nun kommts: Im Zweifel zählt die Gemeinschafts-Waschmaschine. Gibt es auf jeder Etage eine, sind es drei WGs. Gibt es nur eine im Keller, ist es eine WG. Aber: Gibt es nur eine im Keller und in jedem Bewohnerzimmer / Apartment gibt es einen Anschluss (im Bad etc.), ist die Keller-Waschmaschine ein zusätzlicher Service und wird überhaupt nicht berücksichtigt. Gibt es keine Anschlüsse in den Zimmern und keine Waschmaschine im Keller, wird beurteilt, wie die Wäsche gewaschen wird. Gibt es einen Wäsche-Dienst und werden alle Kosten umgelegt, ist es eine WG. Es sei denn, die Kosten werden pro Etage umgelegt und die Wäsche auch pro Etage gesammelt… Das kann man jetzt noch endlos fortführen. Was wäre, wenn einer seine Klamotten ins Wasch-Center bringt? Wohnt der dann nicht in der WG, obwohl er in der WG wohnt?!

Ob es sich um eine oder um drei WGs handelt, könnte wichtig sein, denn wir haben drei Leute, die regelmäßig auch nachts Assistenz abrufen. Die beiden Zwillinge und nun auch Maria. Wobei die beiden Zwillinge körperlich bei weitem nicht so eingeschränkt sind wie Maria.

Ab drei Pflegebedürftige, die mehrmals tagsüber Assistenz und Pflege brauchen und auch durchschnittlich mindestens einmal pro Nacht, handelt es sich um eine WG, die unter das Gesetz fällt. Wohnen in dieser WG nun noch mehr als zehn Personen, handelt es sich nicht mehr um eine WG, sondern um eine Wohneinrichtung.

Dabei ist es aber völlig Banane, ob die übrigen Personen Pflege und Assistenz brauchen oder nicht. Leben in einer WG drei Pflegebedürftige und 7 Fußgänger, ist es eine WG, leben in einer WG drei Pflegebedürftige
und 8 oder 18 Fußgänger, ist es eine Wohneinrichtung.

Eine Wohneinrichtung muss aber (im Gegensatz zur WG) weitere Auflagen erfüllen:
– Zuverlässigkeit des Betreibers
– Vorlage einer Einrichtungskonzeption
– Vorhalten von ausreichend persönlich und fachlich geeigneten Beschäftigten
– Stellung einer Ausstattung, die sich an privatem Wohnraum orientiert
– Personenzentrierte Betreuung
– Sicherstellung der Kontinuität in der Betreuung
– Förderung von Bezugsbetreuung (feste Bezugspersonen)
– Angebot von Maßnahmen zur Gewohnheits- und Bedürfnisbefriedigung
– Angebot von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
– Angebot von Maßnahmen zur Teilhabe an der Gesellschaft
— Kursangebot
— Aufklärung über Stadtteilangebote
— Wahrnehmung auswärtiger Termine
— Angehörigenkontakte sicherstellen
— Hilfsmittel vorhalten
– Einrichtung eines Wohnbeirats zur Mitbestimmung
— bei Mietrecht und Hausordnung
— bei der Unfallverhütung
— bei Pflegeverträgen
— bei Veranstaltungen
— bei Alltagsplanung
— bei der Nutzung der Gemeinschaftsräume
– Personal- und Qualitätsmanagement
— Personalstruktur
— Beschwerdemanagement
— Dienst- und Fallbesprechungen
— Standardisierung von Verfahren
— Qualitätssicherung
– Maßnahmen zum Infektionsschutz
– Maßnahmen zur Arzeinmittelkontrolle
– Sicherstellung der ärztlichen und therapeutischen Versorgung
– Umfangreiche Dokumentation

Im Grunde soll das Gesetzt wohl nichts anderes erreichen, als dass man sich nicht vor den Pflichten, die ein Betreiber eines Pflegeheims hat, damit drücken kann, dass man die Gruppierungen nicht als „Stationen“ sondern als „WGs“ bezeichnet und nicht für die Bewohner organisiert, sondern im Namen der Bewohner organisiert. Da es ja scheinbar immer wieder skrupellose Geschäftemacher gibt, sind solche Vorschriften wohl nötig.

Aber: In unserem Fall ist das alles etwas anders. Dass hier verschieden stark (oder gar nicht) eingeschränkte Menschen zusammen leben und tatsächlich in Eigenregie ihren Pflegedienst und ihre Hilfen disponieren, ist ein Sonderfall, auf den das Gesetz nicht explizit, aber immerhin am Rande vorbereitet ist. Unsere WG gilt als Erprobung einer neuen Wohnform und hat eine Ausnahmegenehmigung bekommen. Daher ist es völlig Banane, ob es sich um eine oder um drei WGs handelt: Die Behörde kann hier jederzeit kommen und schauen, ob alle glücklich sind. Sie hat bereits mehrmals geschaut und höflich gefragt, ob sie sich einmal die Zimmer anschauen kann und ob es allen gut geht.

Und dann finde ich es wieder in Ordnung: Wenn die Behörde turnusmäßig diejenigen Menschen besucht, die wegen schwerer Pflegebedürftigkeit, Demenz oder sonstwas nicht mehr in der Lage wären, die Behörde anzurufen
und sich zu beschweren, dann ist das mehr als in Ordnung. Sie braucht ja nur einmal nach dem Rechten sehen. Es muss aber gestattet bleiben, den Prüfer nicht ins Zimmer zu lassen, wenn man ihn nicht in seiner „Wohnung“ haben möchte. Eine Begründung wie: „Du bist behindert, also gilt das Recht der Unverletzlichkeit der Wohnung für dich nicht“ darf es nicht geben.

Bei uns ist es insofern entspannt, als dass der Verein, der Wohnraum angemietet, umgebaut und an uns weitervermietet hat, keine Gewinne einfährt. Der muss nur kostendeckend arbeiten. Wir organisieren den ganzen Kram selbst. Es hat keiner was davon, abzuzocken. Das Geld würde ihm sowieso nicht gehören. Der Verein hat zwar nach Bedarf Personal angestellt, aber ich könnte als Pflegebedürftige jederzeit selbst jemanden beauftragen. Vom Ambulanten Pflegedienst gegenüber. Oder aus dem Nachbarort. Oder sonstwas. Ich bin nicht an unseren Verein gebunden. Ich wäre aber doof, wenn ich das tun würde, denn die Konditionen, die der Verein anbietet, könnte ich draußen nie erreichen. Es gibt also derzeit niemanden, der hier einzieht, um ein Apartment zum Selbstkostenpreis zu bekommen und einen Zugriff auf günstige und organisierte Pflege, und dann sich jemanden von draußen holt. Wer hier einzieht, leckt sich ja gerade die Finger nach diesem System. Weil das andere (außerhalb) meistens nicht kostendeckend arbeitet.

Und für jemanden, der halbtags arbeitet und netto 900 Euro ausgezahlt bekommt, ist es wichtig, ob er mit seinem Pflegegeld von der Krankenkasse auskommt oder ob er drauflegen muss. Oder ob er eben gerade
mit dem draußen vorherrschenden Systemen unzufrieden ist, weil „draußen“ etliche Leute überfordert und unterbezahlt sind. Oder ob jemand, wie ich, einfach gerne mit den Leuten zusammen ist und deswegen hier wohnt. Die Pflege und Assistenz steht bei vielen Leuten hier nicht im Vordergrund – und genau darum geht es uns.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert