Besuch im Morgengrauen

Das war wieder eine Woche … es wird nicht langweilig. Am Dienstagnachmittag fand, nachdem der Termin mehrfach verschoben worden war, die nächste Verhandlungsrunde mit Marias Trägern statt. Das erste Gespräch
war ja abgebrochen worden, weil eine Sozialarbeiterin als einzige Bedenken dagegen hatte, dass Maria bei uns im Wohnprojekt lebt. Nach einem Telefonat mit ihrem Chef tauschte dieser die Sozialarbeiterin für die nächste Verhandlungsrunde gegen eine Kollegin aus.

Aber so etwas lässt man sich natürlich nicht einfach so gefallen – entsprechend bekamen wir am Dienstagmittag, vier Stunden vor dem Termin,
einen Anruf, dass Maria und ich (als ihre Vertrauensperson) bitte zu Hause bleiben mögen. Es werde erstmal in ihrer Abwesenheit weiter verhandelt. Hallo? Da stellt jemand einen Antrag, da findet ein Termin statt, bei der die Hilfe für die Antragstellerin koordiniert werden soll, und dann soll die Antragstellerin nicht dabei sein? Das war gleich
sehr befremdlich.

Frank und Sofie fuhren also zu dem Termin, um nicht gleich schon formale Gründe zu liefern, um das Gespräch platzen zu lassen. Frank erzählte dann hinterher, dass der Termin nach 20 Minuten beendet war: Die neue Sozialarbeiterin sei von ihrer Kollegin umfassend ins Bild gesetzt worden, sie habe wenig Verständnis dafür, wenn man meine, mit persönlichen Beschwerden auf sachliche Entscheidungen Einfluss nehmen zu
können und von ihrer Dienststelle gebe es keine Empfehlung für Marias Antrag.

Frank hat dann wohl nach einer sachlichen Begründung gefragt, schließlich gebe es ja gutachterliche Empfehlungen. Die Sozialarbeiterin
antwortete, dass sie nicht bereit sei, ihre Entscheidung zu diskutieren. Warum man sich dann treffe, schließlich könne man solche Entscheidungen ja auch allen Beteiligten per Mail mitteilen, und vielleicht auch schon vorab, damit sich jeder darauf vorbereiten könne, fragte Frank. Außerdem müsse sie ihre Entscheidung schon begründen. Eine
schriftliche Begründung solle folgen, versprach die Sozialarbeiterin. Auf die sind wir nun alle gespannt.

Am Mittwochmorgen standen, es war noch dunkel draußen, unangekündigt fünf Leute mit Rollkoffern und Klemmmappen vor der Tür und wollten sich unser Wohnprojekt ansehen. Ich rief Frank auf dem Handy an, er meinte, ich soll die Leute mal 10 Minuten zum Kaffeetrinken in die Küche setzen,
er sei sofort da. Das machten sie auch, meinten aber zu mir gleich, wir
müssten keine Angst haben. Zehn Minuten später kam Frank mit heißen Reifen um die Ecke gedüst. „Danke, dass Sie gewartet haben.“

Die ganze Horde wollte zu Maria. Frank und ich begleiteten sie zu ihrer Zimmertür. Als nach drei Mal klopfen niemand öffnete, machte Frank
die Tür mit einem Generalschlüssel auf, schaute vorsichtig um die Ecke und rief hinein: „Hallo, jemand zu Hause?“ – Im Zimmer ging die Tür zum Bad auf und die Pflegekraft rief: „Wir duschen gerade, was gibt es denn?“ – „Kannst du mal kommen?“ – „Geht nicht, ich muss Maria festhalten, sonst fällt sie mir vom Sitz. Brennt das Haus oder kannst du
5 Minuten warten?“ – „Komm mal bitte zur Tür, so bald wie möglich. Es ist dringend.“

Nach 5 Minuten kam die Pflegekraft zur Tür. Nasse Schuhe, eine Haarsträhne klebte auf der schwitzigen Stirn, sie sah die Horde auf dem Flur und fragte: „Was ist denn hier los?“ – „Kontrollbesuch vom Amt. Dürfen wir mal reinkommen?“ – „Maria ist nackt und friert. Sie müssten sich wohl noch mal fünf Minuten gedulden. Ich möchte ihr wenigstens eine
Hose und einen Pullover anziehen.“ – „Na klar. Wir wollen nur kurz um die Ecke gucken. Haare föhnen können Sie hinterher, dauert nur zwei Minuten.“

Die Leute tauschten mehrere ratlose Blicke aus. Nach zwei Minuten durften wir hinein. Maria hatte ein weißes T-Shirt an, das am Rücken durch die Haare nass wurde, eine schwarze Leggings und sonst nix – kein BH, keine Socken. Sie war ziemlich überrascht. Die Leute stellten sich ihr alle mit Namen vor und gaben ihr die Hand. Zwei Frauen, die dabei waren, waren Altenpflegerin bzw. Krankenschwester. „Wir wollen mal schauen, wo sie wohnen“, sagte einer, guckte aus dem Fenster und sagte: „Schönen Ausblick haben Sie hier!“

Eine Frau fing an zu schreiben und mit einer Digitalkamera Fotos zu machen. Als erstes vom Bett. „Haben Sie heute nacht in diesem Bett geschlafen?“ – Maria nickte. Die Frau legte das Klemmbrett und die Kamera weg, steckte eine Hand unter das Kopfkissen, zog sie wieder raus,
nickte einer Kollegin zu, die danach auch dorthin ging und auch eine Hand unter das Kopfkissen steckte. Sie fragte: „Wo sind ihre Schlafsachen? Nachthemd? Pyjama?“ – Maria antwortete: „In der Wäsche. Im
Bad.“ – „Die müssten jetzt ja obenauf liegen. Können wir einmal kurz schauen?“

Die beiden Frauen stiefelten ins Bad, schauten in Marias Wäschetonne.
Dann wollten sie den Namen der anwesenden Pflegekraft wissen. „Haben Sie einen Ausweis dabei?“ – „In meiner Jacke im Schrank“, antwortete sie. – „Ja, wir müssen sowieso nachher in Ihr Büro.“ – Dann wollten sie wissen, wie Maria sich fühlt. Sie sei aufgeregt und verunsichert, weil sie nicht wisse, was das soll und wie es mit ihr weiterginge. Die Männer
wurden nach draußen geschickt, die zwei Frauen, die auch schon unter das Kopfkissen gefasst haben, baten Maria: „Wir würden uns gerne einmal ihre Hüftknochen, ihren Po und ihre Beine ansehen. Haben Sie etwas dagegen?“

Maria schüttelte den Kopf. Ihre Pflegerin nahm sie auf den Arm, legte
sie auf das Bett, drehte sie auf den Bauch, zog ihr die Hose runter. „Babypopo“, sagte die eine Frau. „Bitte einmal umdrehen.“ – Die Pflegerin drehte Maria auf dem Bett, zog das T-Shirt bis zur Brust hoch.
„Aber keine Fotos“, sagte Maria. Die eine Frau fasste ihr an die Schulter. „Nein, da müssen Sie keine Angst haben, wir wollen nur schauen, ob Sie Druckstellen haben oder offene Wunden.“ – „Hab ich nicht“, antwortete Maria. – „Nein. Es ist alles vorbildlich. So schöne Haut wünschen sich viele Leute, die nicht gepflegt werden müssen. Sie können sich wieder anziehen. Von unserer Seite war es das auch, wir verschwinden wieder. Und sobald Sie hier fertig sind“, sagte sie zur Pflegerin, „kommen Sie nochmal zu uns. Wir müssen noch Ihre Personalien aufnehmen.“

Ich begleitete die beiden Frauen in Franks Büro. Dort wälzten die anderen drei Leute schon Unterlagen, einer stand mit einer geöffneten Akte in der Hand vor dem Fenster und hatte ein Handy am Ohr. Die beiden Frauen fragten: „Handelt es sich bei der Pflegerin, die wir gerade kennen gelernt haben, um eine examinierte Kraft?“ – Frank nickte. Kurze Zeit später kam sie auch zu uns. „Mein Examenszeugnis ist in meiner Personalakte. Ich bin damit einverstanden, dass Sie sich das ansehen.“

Dann telefonierten sie wieder, gaben den Namen durch. Am Ende wurde Frank gefragt: „Seit wann rechnen Sie eigentlich für Maria die Kosten ab
und wann haben Sie zuletzt abgerechnet?“ – „Noch gar nicht“, antwortete
Frank. – „Haben Sie einen Vorschuss vom Sozialamt erhalten?“ – „Bewilligt ja, aber wir haben den noch nicht abgerufen. Wir finanzieren das zur Zeit noch aus Eigenmitteln, da ein endgültiger Bescheid aus unserer Sicht in greifbarer Nähe ist. Dann kann man das einmal glatt ziehen und muss nicht mehrmals hin- und herrechnen bzw. zurückerstatten oder nachberechnen.“ – „Sie haben noch gar nichts abgerechnet?“ – „Nein!
Uns reichte bisher die vorläufige Kostenzusage. Einen Vorschuss haben wir nicht abgerufen.“

Der Typ telefonierte noch einmal und gab irgendwelche Nummern durch, wollte wissen, ob dazu Zahlungen geflossen sind. Als er auflegte, sagte er zu einem Kollegen: „Ich werd bekloppt.“ – Ein anderer Kollege schüttelte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Frank fragte: „Ist etwas nicht richtig?“ – „Vermutlich ist alles richtig. Das ist ja das Problem. Beziehungsweise ist es kein Problem.“ – Ein anderer Kollege sagte: „Doch, das ist ein Problem, wenn man nämlich bedenkt, wieviel Zeit wir hier vergeuden für nichts und wieder nichts.“ – „Ich verstehe nur Bahnhof“, sagte Frank.

„Lassen Sie sich anwaltlich vertreten und protestieren Sie gegen diese Überprüfung. Dann hat Ihr Anwalt ein Recht auf Akteneinsicht. Lassen Sie Ihren Anwalt schauen, warum wir gekommen sind.“ – „Hat sich jemand beschwert?“ – „Es steht mir nicht zu, darüber zu reden. Lassen Sie sich anwaltlich vertreten.“ – „Ich bin Rechtsanwalt. Haben Sie die Akte dabei?“ – „Nur eine Handakte. Auf die haben Sie keinen Anspruch. Alles andere entscheidet mein Chef.“ – „Hat sich jemand aus dem Haus beschwert? Wenn jemand unglücklich ist, möchten wir darauf sofort reagieren und nicht erst in zwei Wochen, wenn die Akte da ist.“ – „Bei wem haben wir denn kontrolliert?“ – „Bei Maria. Und die war sehr überrascht. Und hat gesagt, sie sei glücklich. Achso. Ich verstehe.“ – Der Mann nickte. „Ich kann nur wiederholen: Protestieren Sie gegen diese
Überprüfung. In Ihrer Wohnform sind unangekündigte Überprüfungen nur bei bestimmten Anlässen erlaubt. Da Ihnen kein Anlass bekannt ist, protestieren Sie erstmal und bitten um Akteneinsicht, weil Sie ein Recht
haben, zu überprüfen, ob hier Behördenwillkür vorliegt.“ – „Danke“, sagte Frank. – „Bitte. Sie dürfen auch gerne erwähnen, dass ich Ihnen dazu geraten habe.“

Dienstag läuft die vorläufige Bewilligung für Maria ab. Dann sitzt sie theoretisch auf der Straße. Bis Dienstag gibt es keinen neuen Termin
mehr. Unglaublich, mit welcher Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, dass sich schon irgendwer um sie kümmern wird. Achso, bevor jemand
fragt: Wir setzen sie natürlich nicht auf die Straße.

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