Epilog

Es liegt mir nicht, Texte zu schreiben, die erwartet werden. Als Bloggerin schrieb ich rund 15 Jahre lang ausschließlich unerwartete Texte. Das ist mir seit Sonntag nicht mehr möglich. Seit Sonntag bin ich verbrannt.

Ich bin um Stellungnahme gebeten worden. Vielfach. Um Erklärungen. Inzwischen weiß ich, dass vielen Menschen meine Erklärungen nicht mehr ausreichen werden. Von Überzeugen ganz zu schweigen. Egal, was ich schreibe.
Schriebe ich, dass Jule Stinkesocke eine ausgedachte Figur sei, mit fiktiven Erlebnissen und einem konstruierten oder orchestrierten Leben, schriebe ich die Unwahrheit. Schriebe ich, dass Jule Stinkesocke eine reale Person sei, mit realen Erlebnissen und einem realen Leben, schriebe ich ebenfalls die Unwahrheit.
Die Wahrheit ist, und das kommuniziere ich seit vielen Jahren in meinem Blog immer und immer wieder: Ich schreibe über meine Erlebnisse. Über reale Erlebnisse. Als querschnittgelähmte Frau. Nicht alle. Nicht immer sofort. Nicht immer am richtigen Ort. Nicht immer mit exaktem Wortlaut. Und niemals mit den realen Namen. Weder mein Name ist real, noch die Namen der anderen Menschen. Ausschließlich der inhaltliche Kern dessen, was ich schreibe, ist real.

Ich habe von Anfang an kommuniziert, dass ich für mich schreibe. Für niemanden sonst. Dass es meine Privatangelegenheit sei. Dass ich meine Texte teile und meine Leser:innen teilhaben lasse. Dass ich über alles das schreibe, was meine Behinderung mit sich bringt: Sei es die veränderte Perspektive auf die Welt, sei es der verschobene Fokus in der Wahrnehmung der eigenen Mitte, sei es die Lähmung des halben Körpers, des Darms, der Blase, der Sexualität. Sei es die Wahrnehmung durch andere Menschen. Seien es die schönen Momente mit anderen Menschen.
Ich schreibe für mich. Ich teile und lasse öffentlich teilhaben. Der Preis dafür ist hoch: Ich konnte und kann als Jule Stinkesocke nicht in die Öffentlichkeit. Ich habe mich von Beginn an entschieden, intime und persönliche Details zu teilen. Verfremdet, zeitlich verzerrt, aber dennoch oft sehr intim und persönlich. Das habe ich mich vom ersten Tag an nur getraut, weil ich halbwegs sicher sein konnte, dass mich im realen Leben niemand auf die intimen Details ansprechen wird. Dass mir niemand gegenübersteht, der mich grinsend wissen lässt, dass er alles über mich weiß (und ich nichts über ihn). * Ich habe (unter anderem) mit meinem Blog meine Behinderung verarbeitet. Und meine Leser daran teilhaben lassen.

Der Preis dafür war klar vereinbart: Meine Anonymität.
Ich habe in den vielen Jahren von vielen Leser:innen sehr viel Mitgefühl bekommen, gerade wenn es mir schlecht ging. Gerade wenn ich Trost brauchte. Oder eine Meinung. Oder einen Tipp. Dazu möchte ich eins versichern: Ich habe niemals mit den Gefühlen meiner Leser:innen gespielt. Es gab keine Situation, in der ich beschriebene Gefühle oder Erlebnisse ausgedacht oder frei erfunden habe. Allenfalls kam es bei zeitlich versetztem Schreiben vor, dass ich über den Ärger oder den Schmerz bereits zu einem großen Teil hinweg war, als das Mitgefühl bei mir ankam. Aber dazu muss ich sagen: Es hat mir trotzdem geholfen.

Ich hatte zu Beginn meines Blogs tatsächlich ein Profilfoto auf der Startseite meines Blogs. Eins von vor meinem Unfall. Und ein Impressum mit meiner damaligen Anschrift. Wie sich das gehört. Ich war allein, niemand kannte mich, ich war minderjährig. Niemand meiner bisherigen Freunde wollte noch etwas mit der behinderten Frau zu tun haben. Als mein Blog immer größere Aufmerksamkeit bekam und zum ersten Mal Menschen meinen elementaren Wunsch nach Distanz nicht respektierten und mich damit in meiner Intimität verletzten, löschte ich beides. Was wiederum schwierig war, denn ein Impressum war Pflicht. Markus, der hier immer wieder verlinkt und gedoxt wird, hat mir damals einen Impressum-Service gegeben. Zunächst im Rahmen eines Vereins, später privat. Das ist inzwischen über zehn Jahre her. Wäre er Urheber meiner Beiträge und wollte er das verschleiern, würde er also erreichen wollen, dass das Pseudonym Jule Stinkesocke nicht mit ihm in Verbindung gebracht wird, dann würde sein Name dort wohl ganz sicher nicht stehen. Mehr ist zu dieser Entdeckung nicht zu sagen.

Ich habe in den 15 Jahren meines Bloggens und auch in den knapp zehn Jahren bei Twitter sicherlich viele Fehler gemacht. Ein Fehler war es zweifelsohne, ein Profilbild einzustellen, das nicht mein Gesicht zeigt. Ich hätte es besser kommunizieren, öfter wiederholen müssen. Ich war zu bequem. Es ist im Nachhinein irrelevant, dass Tausende andere Menschen bei Twitter auch nicht ihr Gesicht zeigen. Relevant ist, dass ich ein Gesicht gezeigt habe und dass das gezeigte Gesicht meins hätte sein können. Und offenbar viele Menschen das geglaubt haben.
,,Nimm das, dann ist Ruhe“, war der Tipp, dem ich müde gefolgt bin, als immer wieder, manchmal täglich, Menschen ein Profilbild wollten. Mich deshalb anschrieben. Ich hätte den unbequemen, aufrichtigen Weg gehen und immer wieder darauf hinweisen müssen, dass ich das nicht möchte; immer wieder widersprechen oder zumindest ignorieren müssen. Stattdessen habe ich irgendwann das Bild eingestellt, das mir ein Kumpel gab. Mit dem Versprechen, es sei ordnungsgemäß gekauft. Einfach, um Ruhe zu haben. Vor den ewigen Nachfragen. Ja, das war ein Fehler. Ein sehr dummer sogar. Im Nachhinein ist mir das klar. Ich war naiv.

Gelähmte Beine, die irgendwann rumzittern. Schlechte Rumpfkontrolle. Schnell zum Klo müssen. Kreislaufprobleme. Das alles habe ich irgendwie verarbeitet. Darüber konnte ich schreiben, das Schreiben hat mir geholfen. Aber ich bin nicht perfekt. Seit meinem Unfall bin ich nicht mehr so schön wie ich mal war und wie ich gerne wäre. Am Oberkörper ist alles verdeckt, im Gesicht nicht. Nein, ich sehe nicht aus wie ein Monster, aber ich mag mich nicht sehen. So banal und unglaubwürdig das klingt: Ich wollte sowieso kein Foto von mir veröffentlichen. Und eins mit Unfallspuren schon gar nicht. Ich war damals noch nicht soweit. Und als ich theoretisch soweit war, habe ich das Thema verdrängt.

Es haben von Anfang an Leute gefragt, wer das ist, weil damals sehr viele Leute noch in Erinnerung hatten, dass ich blonde Haare habe. Ich habe geantwortet: „Ist sie nicht hübsch?“ Damit kokettiert, dass ich das Bild nur für jene aufdringlichen Follower hochgeladen habe, die keine Ruhe gaben. Für mich und, wie ich inzwischen lese, für viele andere war klar, dass das nicht mein Portrait ist. Ich fand das Bild irgendwie schön. In der Zwischenzeit war das nie wieder Thema, es sind zehntausende Follower hinzugekommen. Ich habe aus dem Blick verloren und die Augen davor verschlossen, dass es für einige Menschen wichtig ist, dass das Bild, das sie sehen, auch die Person zeigt, die schreibt. Wie ich heute weiß und wie ich hätte wissen müssen, habe ich damit die Gefühle von vielen Menschen verletzt. Dafür bitte ich aufrichtig um Entschuldigung.

Ich habe in den letzten Tagen erfahren müssen, welche Bedeutung ich bei Twitter habe. Wer alles die Zeit hat, zu recherchieren, trotz meines Wunschs nach Anonymität. Aus einem Stalker wurden zwei, inzwischen sind es Dutzende. Alle wollen die Sensation: Mich aufspüren.
Ich soll beweisen, dass es mich gibt. Nun, ich heiße nicht Jule Stinkesocke. Jede Frau könnte theoretisch irgendwo behaupten, sie sei ich oder habe meinen Blog geschrieben. Ich kann den Nachweis nicht erbringen, selbst wenn ich mich entschließen sollte, meine Anonymität, die grundsätzliche Bedingung war, aufzugeben.
Aber gerade jetzt werde ich sie nicht aufgeben. Ich habe Twitter in den letzten Tagen von einer Seite kennengelernt, die es mir unmöglich macht, mich dort noch wohlzufühlen. Tweets und Hashtags über mich, die trendeten. Allerdings auch viele klare, beschwichtigende Beiträge, für die ich mich sehr bedanke.
Mein Wunsch war es, beim Bloggen meine Behinderung zu verarbeiten. Auch dadurch, dass nicht betroffene Menschen erfahren, wie es ist, einen Rollstuhl zu nutzen. Ich hatte keine böswilligen Absichten. Zu keinem Zeitpunkt. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass es mir oft gelungen ist, Verständnis zu erzeugen.
Ich muss leider aber auch feststellen, dass ich Menschen aus der Community verunsichert und verärgert habe. Insbesondere durch meinen hartnäckig verfolgten Entschluss, mich nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen. Zu verärgern war selbstverständlich nicht meine Absicht; erst recht bin ich nicht mit dieser Absicht zu Twitter gekommen.
Das hat mich am Ende angreifbar gemacht. Für viele Menschen war klar, dass ich ein Fake sein muss, wenn schon mein Bild nicht mich zeigt. Viele Menschen haben den (falschen) Schluss gezogen, wenn es die Frau nicht ist, die auf dem Bild zu sehen ist, dann müsse es derjenige sein, der im Impressum steht. Diese Argumentationskette ist unlogisch.
Danach fragt schon lange niemand mehr. Ich bin allerdings auch nicht mehr in der Position, mich darüber zu beschweren. Ich möchte aber dazu eins noch abschließend zu bedenken geben, nur für einen Absatz lang auf diese These aufspringen: Wenn ich jemanden kennenlernen würde, der sich eine Lebensgeschichte über 15 Jahre lang ausdenkt und nahezu täglich öffentlich postet, dann würde ich denjenigen nur noch in den Arm nehmen und zuhören wollen. Denn da wird zuvor etwas ganz Schlimmes passiert sein. Vielleicht ist das zu psychologisch. Vielleicht ist es einfacher, Beweise darin zu suchen, dass mein Blog down ist. Und ein Schloss vor meinem Account. Es wird wohl niemandem verborgen geblieben sein, was auf Twitter los ist. Welche Screenshots dort geteilt werden. Welche Häme, welcher Hass. Ich beschwere mich nicht.

Nach alledem ist ein „Weiter so“ aber nicht mehr darstellbar. Ich bitte diejenigen, die ich verletzt habe, noch einmal um Entschuldigung, und verabschiede mich von euch allen. In der Hoffnung, dass auch mir diese Trennung hilft, um künftig anders und moderner mit meiner Behinderung umzugehen. Wie inzwischen viele andere Menschen. Viele von euch leben mir heute ein Leben vor, das undenkbar war, als ich, als eine der ersten in Deutschland über mein Leben mit einer Behinderung bloggte. Auch wenn vieles noch nicht gut ist, es ist inzwischen besser. Dafür und für unseren Dialog bin ich euch sehr dankbar.

Danke für alles. Tschüss,
Eure Jule

(*) „Das habe ich mich vom ersten Tag an nur getraut, weil ich halbwegs sicher sein konnte, dass mich im realen Leben niemand auf die intimen Details ansprechen wird. Dass mir niemand gegenübersteht, der mich grinsend wissen lässt, dass er alles über mich weiß (und ich nichts über ihn).“

Niemand bis auf
– Alle Leute, sobald ich etwas über sie schreibe, was möglicherweise nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist (Link)
– Meine Freunde und Bekannten (Link)
– Random Bekannte (Link)
– Vereinskollegen und deren Eltern (Link)
– Cathleen & Sofie (Link)
– Markus (Link)
– Maria (Link)
– Sexualassistentin Lotte (Link)
– Den Professor, der mir einen Studienplatz schenkte (Link)
– Alle Kommilitonen in Hamburg (Link)
– Männer, die unmoralische Angebote machen (Link)
– diverse Kommilitoninnen in Bayern (Link)
– meine verschollenen Zwillingsschwestern (Link)
– Sebastian (Link)
– to be continued 

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